Jakob Hein
Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht
Es gibt unendlich viele Ideen auf der Welt – sie entstehen und werden verworfen, vernichtet, vergessen. Boris Moser will dieser Verschwendung ein Ende bereiten und gründet eine "Agentur für verworfene Ideen". Er sitzt in seinem Laden, sortiert, ordnet, katalogisiert und wartet auf Kunden.
Kistenweise Romananfänge
Eine Frau ruft an, will eigentlich die ehemalige Computerfirma sprechen, beginnt sich aber für den schrägen Vogel am anderen Ende der Leitung zu interessieren. Sie besucht ihn und bei ihrem Anblick ist es um Boris geschehen. Rebecca Kron, seine erste Kundin, eine Schönheit! Zum Verlieben! Sie diskutieren über verworfene Ideen: billige Weihnachtsbäume im Juni, Kloschüsseln und ihre Bedeutung für den Nationalcharakter eines Volkes, Schimpfwörter-Studien und Romananfänge. Die gibt es kistenweise, auch von Boris. Einen rückt er raus.
Gedankenleserin
Schon sind wir in der nächsten Geschichte und lernen Sophia kennen. Sie ist auf der Straße ohnmächtig geworden und liegt im Koma. Sophia hat eine beunruhigende Eigenschaft: Sie kann Gedanken lesen und verhält sich deshalb immer genau so, wie ihre Mitmenschen es erwarten. Der junge Arzt Sebastian ist zunächst zu Tode erschrocken als sie ihn anspricht. Sophia erklärt ihm, im Koma habe sie endlich Ruhe vor den Träumen anderer und müsse sich nicht mehr um den alten blinden Schriftsteller bemühen, als dessen Privatsekretärin sie seinen Roman in eine alte Schreibmaschine tippte.
Vom Sinn des Lebens
Wir ahnen es, die nächsten Geschichten kommen auf uns zu, vom missmutigen und ewig schlecht gelaunten Schriftsteller und von seinem Romanhelden Heiner: Der beginnt sein Tagwerk erst am frühen Abend, wenn die Welt zur Ruhe kommt. Heiner forscht nach dem Sinn des Lebens. Aber das tun eigentlich alle in Jakob Heins skurrilem Roman, den er wie eine russische Puppe zusammengesetzt hat. Öffnet man eine Puppe, findet man eine andere, darin die nächste und so fort.
Zurück ins 15. Jahrhundert
"Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht" ist ein Zitat aus Goethes "Faust", also fehlt im vergnüglichen Kaleidoskop noch ein Mephisto, ein Verführer und Seelenverkäufer, der dem ruhelosen Wissenschaftler Heiner verspricht, ihn an einen Ort der Stille zu versetzen. Er wacht im 15. Jahrhundert auf, in einer einsamen Hütte, nun zwar ungestört, aber auch ohne Medien und damit ohne die Möglichkeit zu publizieren. Dumm gelaufen für einen Wissenschaftler, der der Nachwelt das Wissen der Menschheit hinterlassen will.
Kurzweilig und Klug
Jakob Hein hat einen klugen Roman geschrieben, prall gefüllt mit philosophischen Erkenntnissen, verschrobenen Figuren und schnurrigen Beschreibungen vom Überfluss der Welt, vom vermeintlichen Chaos des Lebens und von der ewigen Sehnsucht nach Glück - leicht und kurzweilig erzählt. Mit feiner Ironie und viel trockenem Humor beschreibt der Autor Gedanken und Ideen, die bis heute die Welt bewegen, weil sie, zum Glück, nie verworfen worden sind. So kann sich zum Schluss der Kreis der Geschichten auch schließen.
(Christiane Schwalbe)
Jakob Hein *1971 in Leipzig, deutscher Arzt u. Schriftsteller
Jakob Hein "Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht"
Piper Verlag 2008, 174 Seiten, 16,90 Euro
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