René Freund
Niemand weiß, wie spät es ist
"Nora weinte nie, Nora konnte nicht weinen". Und sie tut es auch nicht, als sie vom überraschenden Tod ihres Vaters erfährt, der auf der Straße einfach umgefallen ist - Herzversagen. Die Tochter ist Alleinerbin, die Testamentseröffnung beim Notar dürfte also reibungslos vonstatten gehen.
Nur zu Fuß
Ein großer Irrtum, wie sich schnell herausstellt, denn der Vater hatte mit seiner Tochter Besonderes vor. Er schickt sie auf eine Reise nach Österreich, wo
"meine Asche ihre letzte Ruhe finden wird. Ein Teil der Reise soll ausschließlich zu Fuß erfolgen, und zwar unter notarieller Aufsicht. Die Etappenziele werden … jeweils am Vortag telefonisch oder per Mail durchgegeben."
Prüder Begleiter
Ein Schock, denn Nora kann weder Österreich leiden, noch das Wandern. Zu allem Überfluss ist ihr Rechtsbeistand, Bernhard, ein überaus korrekter und ziemlich prüder Notariatsgehilfe aus Wien, der vegan lebt, auf jede noch so schwierige Situation bestens vorbereitet ist, aber den Freuden des Lebens nur wenig abgewinnen kann. Ganz im Gegensatz zur chaotischen, temperamentvollen und aufgeweckten Journalistin Nora, die leidenschaftlich gern isst und trinkt und auch sonst ihren sinnlichen Bedürfnissen freien Lauf lässt.
Vaters Wünsche
Und nun beginnt eine Art Pilgerreise, allerdings nicht gleich mit dem Ziel, dem Sinn des Lebens zu Fuß näher zu kommen, sondern zunächst mal, um Vaters Wünsche zu erfüllen. Wobei sich im Verlauf dieser ungewöhnlichen Reise, die im Krematorium mit einer noch heißen Urne ihren Anfang nimmt, zunehmend die Frage nach dem Sinn des Lebens aufdrängt und mit den beiden in ihrer Wesensart so extrem unterschiedlichen Protagonisten eine schleichende Veränderung stattfindet.
"Ihr Vater erstaunte sie, tatsächlich, diese aufmerksame, sensible, philosophische Seite an ihm kannte sie nur ansatzweise. Was er gesagt hatte, versetzte sie in eine Art Trance. in der Trance tauchten fragen auf, lauter Fragen, auf die es keine Antworten gab ..."
Botschaften aus dem Jenseits
Natürlich ist es eine Reise mit Hindernissen – zu erwartende und überraschende, komische und tragische. Nora und Bernhard lernen ihre jeweils andere Wesensart zu schätzen und kommen sich – natürlich – näher. Den Vater lernen wir sozusagen über Botschaften aus dem Jenseits kennen, noch zu Lebzeiten aufgezeichnete Texte und Videos - traurig, liebevoll, berührend. Er liefert mit den Erklärungen zu seinen Etappenzielen nicht nur geografische Orientierung, sondern auch lebenskluge und nachdenkliche Betrachtungen über sein Leben und den Sinn, den er oft gesucht, aber nicht immer gefunden hat.
"Weißt Du, eine Welt ohne Gott zu denken, ist unterm Strich viel angenehmer als eine Welt mit Gott. Wenn es kein höheres Wissen, keinen großen Plan gibt, dann ist es auch egal, was wir denken und wie wir handeln."
Unerwartet und komisch
Ein Buch zum Lachen und zum Weinen, das Klischees zwar nicht auslässt, aber durch immer neue und turbulente Ereignisse spannend bleibt – hintergründig, komisch und weise, mit einem nicht ganz unerwarteten, dann aber doch verblüffenden Ende in einem Paris ohne Klischees, aber mit Entenleberpastete.
(Christiane Schwalbe)
René Freund *1967 in Wien, österreichischer Schriftsteller und Übersetzer, lebt in Grünau im Almtal
René Freund "Niemand weiß, wie spät es ist"
Roman, Deuticke 2016, 272 Seiten, 20 Euro
eBook 15,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu René Freund
"Ans Meer"