Saša Stanišić
Fallensteller
"Das Biest Sprache hat mich in seinen Fängen" - Georg Horvath, ein Justiziar, der in jungen Jahren mal Gedichte schrieb, gerät in eine Falle, die ihm die vertraute Sprache raubt. Statt nach endlos langem Flug in Rio Vertragstexte für eine Bierfabrik aufzusetzen, wird er verwechselt und landet im Urwald – eine Reise, die ihn in “die vergebliche Sehnsucht, das Richtige zu sagen“ abstürzen lässt und alle Sicherheiten, an die er sich zu klammern gewohnt ist, erlöschen lässt.
Neue Räume
Die Präzision, die er sich wünscht, ist eine Chimäre, und erst die Reise selbst, die ihn in drei Erzählungen ins Unerwartete führt, eröffnet neue Räume. Der namenlose Ich-Erzähler, der mit seinem Kumpel Mo als Held dreier anderer Geschichten Europa durchquert, reist,
"damit geschehen kann, was zu Hause nicht geschehen kann. Damit Zuhause nicht geschehen kann. Uns verbindet eine große Feigheit vor Nachbarschaften und Mitgliedschaften, vor Smalltalk mit dem Postboten, vor der Kaufberatung im Kaufhaus, vor Spieleabenden. Unser Verantwortungsbewusstsein ist sehr hoch, unsere Taten folgen ihm nicht. Unsere Taten folgen einem Stein.“
Mut und Zauberei
Einem Stein oder einem Bild oder einem Einfall - Stanišićs Helden stürzen in die Löcher im Universum, die er für sie bereithält und in die er sie lockt wie das Kaninchen, dem die kleine Alice in Lewis Carrols Wunderland folgt, dort wo die Gesetze von Zeit und Raum dazu neigen, sich aufzulösen und die Trugbilder ein munteres Eigenleben an den Tag legen. Der fremde Fallensteller verführt in der längsten Geschichte des Bandes die aus Stanišićs Roman "Vor dem Fest" bekannten Bewohner seines Fürstenfelde-Dorfkosmos zu allerhand tierfreundlichen Projekten und nimmt sich, wenn es gewünscht wird, sogar ihrer Träume an, und alle wissen:
"auf so einen bist du nie vorbereitet, mit seinem Gepäck voll Allerlei: Sprache, Mut und Zauberei."
Magie des Schreibens
Wenn das alles nur Freude an Sprachspielerei und überbordende Phantasie wäre, könnte man Stanišićs zwölf sehr unterschiedliche Erzählungen als Vorübungen für kommende Romane oder ein fast beliebig erscheinendes Spektrum virtuoser Fingerübungen abtun, das die Magie des Schreibens vorführt, bei dem es wie beim Zaubern nicht um das geht, "was ich mache", sondern darum, "was ihr nicht seht, was ich mache". Doch bei aller ausgestellten Kunstfertigkeit kreisen die Texte doch um lebenswichtige Fragen. "Im Ferienlager im Wald" etwa beobachtet ein Junge einen anderen, den niemand mag, weil er anders ist:
"Bei Jörg sind es vor allem die Ohren. Und eine allgemeine Schüchternheit vor den Dingen, vor der Welt. Aber vor allem die Ohren. Wenn ich Jörgs Ohren sehe, fällt mir kein Wort ein, das sie beschreiben könnt, es müsste noch erfunden werden… Jörg hat die stolzesten Ohren des Universums."
Eingefahrene Sichtweisen
Wie Stanišić in kleinen, fantastischen Sprachschritten entwickelt, dass Anderssein auch unter schwierigen Bedingungen verstanden und angenommen werden kann, ist einzigartig. Auch die Wahrnehmung des herumschweifenden Ich-Erzählers, der mit seinem Freund Mo an der norwegisch-russischen Grenze landet, ist nicht nur poetisch, sondern zielt darauf ab, eingefahrene Sichtweisen nachhaltig durchzuschütteln:
"Scheinwerfer springen an, der Grenzübergang ist im Schneegestöber eine Schneekugel. Der See und der Wald, Russland, Himmel, das ist alles außerhalb des Glases. Jemand schüttelt uns, und ich halte mich an Anders fest."
Unvollendete Sätze
Nicht nur die Schneekugel wird in ungeahnte Bewegung versetzt, sondern auch die Räume und Zeiten, die die Menschen durchqueren, in der Erinnerung, im Traum oder auf ihren Reisen. Stanišić hat eine große Begabung dafür, in seinen Texten die Ecken zu erforschen, die sich nicht glatt auf ihr vermeintliches Gegenstück legen lassen, die Bereiche, die sich der linearen Logik entziehen. Wenn auf einem Floß christlicher Menschenrechtsaktivisten auf dem Rhein über Muslime und Milieuwandel durch Muslime palavert wird, sammelt der Ich-Erzähler unvollendete Sätze ein, um sie später muslimischen Bekannten zu erzählen und überlegt, was er tun muss, um "dazuzugehören und ebenfalls lauwarm mit Einverständnis übergossen zu werden", bevor er und Mo in die Absurditäten der jungen Kunstszene eintauchen. Der harte Kern dieser und der meisten Geschichten lässt sich in der Nähe der Traurigkeit aufspüren, über die Dinge, die nicht zu verstehen, aber auch nicht zu ändern sind.
Fische im Trauma
Dazu noch ein treffender kleiner Ausschnitt aus diesem wunderbaren Band:
"Das Sympathische an Fischen ist ihre konstante Niedergeschlagenheit. Es gibt den fröhlichen Fisch nicht. Der Fisch schaut immer so, als bedaure er den einen Moment, wo quasi seinesgleichen aus dem Wasser an Land krochen. Für Amphibien ein unvergesslicher Glücksmoment, für die Fischgebliebenen ein Trauma."
(Lore Kleinert)
Saša Stanišić *1978 in Višegrad in Bosnien-Herzegowina, lebt seit 1992 in Deutschland, erhielt zahlreiche Preise u.a. den Alfred-Döblin-Preis, lebt in Hamburg
Saša Stanišić "Fallensteller"
Erzählungen
Luchterhand Literaturverlag 2016, 288 Seiten, 19,99 Euro
eBook 15,99 Euro, Audio-CD 19,99 Euro, Hörbuch-Download 13,95 Euro
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