Barney Norris
Die Jahre ohne uns
„NARBENBILDUNG. Die tägliche Routine, die uns irgendwann alle einkapselt. Der Panzer, den wir uns selbst anlegen. Der Schaden, den wir am Ende doch erleiden. Die Dinge, die uns als Menschen kennzeichnen. Die Dinge, die uns zu Gefangenen machen. Die Dinge, die uns frei machen. Worauf wir stolz sind. Was wir verbergen…Während wir den Schmerz vergessen und sie allesamt in Geschichten verwandeln.“
Die namenlose Frau, geboren Anfang der fünfziger Jahre, erinnert sich, wie sie aus der Bahn geworfen wurde: Die Enzyklopädie aller Worte, die sie liebte, hätte sie gern geschrieben, doch diesen Traum, wie so viele andere, konnte sie nicht verwirklichen. Zu viele Verluste, der Vater, der verschwand, als sie sieben Jahre alt war, der Mann, der sie verließ, da war sie Mitte zwanzig, die Kraft, die ihr offenbar abhanden kam und statt der Wunder der Erinnerung nur Fakten, Daten und Orte ließ:
„Ich denke häufig, dass, hätte ich die Kraft gefunden, die Enzyklopädie zu komplettieren, die Worte und Wunder eines ganzen Lebens zusammenzusammeln, der Kern meiner Geschichte deutlicher würde als durch jede Auflistung von Fakten, Daten und Orten. Sie hätte die Möglichkeit geboten, mir direkt ins Herz zu schauen, sodass die Leute über die Geringfügigkeit der Fakten hätten hinwegsehen und einen Blick auf die geheime Wahrheit erhaschen können, dass sich auch mein Leben bedeutsam anfühlt, unter der Oberfläche, dass jeder einzelne Tag für mich einzigartig ist.“
Zwei einsame Fremde
In einer Hotelbar in der Nähe der Klinik, wo sie behandelt wird, kommt sie mit einem Mann ins Gespräch, und im zweiten Teil des Romans hören wir mit ihr seine Geschichte, die sich, ebenso wie die ihre zuvor, in faszinierender Weise entfaltet. Während sie in Trauer über nicht gelebtes Leben erstarrt ist, hat der Mann, früher ein Schauspieler, sich auf die verzweifelte Suche nach seiner verlorenen Liebe begeben, die er früh verließ. Er ist in einer Zeitschleife gelandet, die seine Erinnerung in zahllose Fragmente aufsplitterte und ihn weiter weg von sich selbst führt, ein Fliegender Holländer modernen Zuschnitts, der immer wieder alles verliert. Zwei einsame Fremde führt der Zufall zusammen, und ihre Blessuren gewinnen im Rückblick auf ihr Leben Kontur und Tiefe, ohne dass der Autor sich zu platten Psychologisierungen versteigt.
„Also wiederholten sich diese Träume, die ich hatte. Jede neue Szene war gleichzeitig eine Heimkehr. Waren sie allesamt Spiegelungen eines Teils meines Gehirns, eines Teil meiner selbst? Kam in all diesen Geschichten etwas von meinem Inneren zum Ausdruck? Und was hielt diese Welt für mich bereit, was hatte sie zu sagen?“
Chance auf Heilung
Erinnerungen, und damit sorgt der Autor für ein geschicktes Spiel zwischen den Geschichten der beiden, haben die Eigenschaft, bei jeder neuen Annäherung etwas anderes zu erzählen oder sich auf geisterhafte Weise zu entziehen. Gleichzeitig bieten sie die Chance auf Heilung, doch Barney Norris lässt keinen Zweifel daran, dass diese Chance erkannt und ergriffen werden muss, und das ist nicht einfach. Die Wörter, die Erzählungen sind dabei notwendige Wegmarken und Schneisen, die gehört und erkannt werden können, und das ist der kluge Subtext dieses dritten Romans des britischen Theater- und Romanschriftstellers, der Hoffnung für die Verwundeten aufscheinen lässt:
„Etwas schützen oder retten. Eine Haut nachwachsen lassen, die Nervenenden schützt. Wieder etwas fühlen zu können, ohne dass es brennt. Wiederaufblühen, neues Leben sprießen lassen, Wurzeln schlagen. Durch die Hölle gegangen zu sein.“
(Lore Kleinert)
Barney Norris, *1987 in Sussex, englicher Autor von Theaterstücken und Romanen
Barney Norris „Die Jahre ohne uns“
aus dem Englischen von Johann Christoph Maass
Roman, Dumont Verlag 2021, 272 Seiten, 22 Euro
eBook 16,99 Euro