William Boyd
Trio
„Anny Viklund wachte auf und überlegte wie jeden Morgen, während sie langsam wieder zu Bewusstsein kam, ob der heutige Tag sich wohl als ihr Todestag entpuppen würde. Warum kam ihr ausgerechnet diese makabre Frage jeden Morgen aufs Neue in den Sinn, gleich nach dem Aufwachen?“
Nicht ohne Alkohol
Ohne ihre Tabletten würde die schöne amerikanische Schauspielerin weder ihren frühen Ruhm noch die Hauptrolle bewältigen können, für die man sie ins idyllische Seebad Brighton holte, wo der Film mit dem albernen Titel „Emily Bracegirdles außerordentlich hilfreiche Leiter zum Mond“ gedreht wird. Und ohne beträchtliche Mengen Alkohol würde die Frau des Regisseurs, vor zehn Jahren als Autorin Elfrida Wing sehr erfolgreich, ihre hartnäckige Schreibblockade nicht ertragen, und auch die Affären des Gatten nicht. William Boyd folgt ihren verschlungenen Wegen und verbindet sie mit denen des Filmproduzenten Talbot Kydd, der immer mal wieder Probleme der chaotischen Produktion lösen muss. Ebenso wie das der beiden Frauen läuft auch sein Leben leise aus dem Ruder, denn er führt als Homosexueller mit Frau und erwachsenen Kindern ein Doppelleben, das jetzt, 1968, nicht mehr nötig wäre, weil Homosexualität nicht mehr strafbar ist. In diesem besonderen Jahr werden die Vorboten großer Veränderungen spürbar, die erstarrten Gewohnheiten werden brüchig und bieten keinen Halt mehr.
Gesellschaftliche Umbrüche
William Boyd zeigt, wie schwer es seinem Trio fällt, neue Möglichkeiten zu erkennen und auszuhalten. Er zeichnet das Bild einer Gesellschaft, deren Umbrüche und Selbstbefreiungen im Nachhinein verklärt wurden, damals jedoch für die vielen Einzelnen nicht leicht zu erkennen, schon gar nicht zu bewältigen waren.
„Wie ist dein Leben, Talbot?“ fragte der Colonel mit wissendem Unterton. „Wie geht es deinem ‚unterentwickelten‘ Herzen – so hast du es mir doch mal beschrieben?“ „Oh, es entwickelt sich durchaus“, antwortete er mit einem vielsagenden Lächeln.“
Was sich tatsächlich entwickelt, ist für das ‚Trio‘ schwer zu kontrollieren: Boyd entwickelt in seiner ausgefeilten Sprache subtil die Hemmnisse innerer und äußerer Art, die ihre Absichten immer wieder in unerwartete Bahnen lenken. Der junge Star Anny Viklung - man denkt sofort an Jean Seberg - wird von ihrem Kurzzeit-Ehemann, einem gesuchten Terroristen, heimgesucht und gerät ins Fadenkreuz des FBI, obwohl sie ihn nur loswerden will.
„Mit Vernunft war ihm nicht beizukommen, seine erbarmungslose Unlogik triumphierte immer, war über jeden Widerspruch erhaben, jeden Versuch einer alternativen Erklärung, über alles, was ihn hätte bremsen können. Wenn sie an ihre Ehe dachte, erinnerte sie sich vor allem an ein nahezu permanentes Gefühl geistiger Erschöpfung.“
Auch ihre beiden Liebhaber, ihr jüngerer Filmpartner und ein französischer Politphilosoph umzingeln sie eher als dass sie hilfreich wären. Schuld an ihrem saufenden Elend, das sie sorgfältig verbirgt, gibt die Schriftstellerin Elfrida allem und jedem um sie herum, vor allem aber Virginia Woolf, als deren Nachfolgerin sie gefeiert wurde.
Kontrollverlust
Als sie sich schließlich aufmacht, einen Roman über den letzten Tag der Literaturikone zu schreiben, gerät sie in eine hochkomische Endlosschleife von Wodka&Gin-befeuerten Buchanfängen, aus der sie kaum mehr herausfindet, jedenfalls nicht aus eigener Kraft oder Einsicht. Talbot schließlich verliert allmählich die Kontrolle über sein kleines, britisches Filmimperium, bleibt aber, mit der Selbstbeherrschung des früheren Kriegsteilnehmers, seinen Defiziten am ehesten auf der Spur, etwa, als er Elfrida bei einem Konzert in der Royal Festival Hall begegnet:
„Sie tranken, da ihr Gespräch wieder ins Stocken geriet. Beide gefangen in der linkischen Förmlichkeit ihrer Rollen, dachte Talbot, in ihrer chronischen Gehemmtheit im Umgang mit anderen, dem Normalzustand der englischen Mittelschicht…Ihre banale, wohlerzogene Unterhaltung ermüdete ihn zusehends – ihr ging es sicher nicht anders -, aber der Schein musste notgedrungen gewahrt werden.“
Der Schein wird in diesem höchst unterhaltsamen Roman gewahrt, bis es nicht mehr geht, während die chaotische Filmproduktion demonstriert, wie man sich aus allen Pannen und Katastrophen herauswurschtelt, mit immer neuen Tricks und Umwegen. Im Leben der Protagonisten kann das auf Dauer nicht gelingen, und William Boyds kunstvolle Romankonstruktion steuert elegant und ohne einen einzigen falschen Ton auf die jeweiligen Bruchstellen zu, bis die dunkleren Seiten ihrer Doppelleben die Oberhand gewinnen. Ein ungemein unterhaltsames Buch, das die Balance zwischen Komik, Ironie, Mitgefühl und Traurigkeit nie verliert. Was Elfrida Wing in einem ihrer lichteren Momente ihrem Lektor sagt, trifft für diesem Roman zu:
„Wenn man erfahren möchte, wie Menschen sind, wie sie wirklich sind, wenn man wissen möchte, was in ihren Köpfen vor sich geht, hinter den Masken, die wir alle tragen, dann sollte man einen Roman lesen.“
(Lore Kleinert)
William Boyd, *1952, britischer Autor von Erzählungen und Romanen, lebt in London
William Boyd „Trio“
aus dem Englischen von Patricia Klobusiczky und Ulrike Thiesmeyer
Roman, Kampa Verlag 2021, 432 Seiten, 22 Euro