Colum McCann
Apeirogon
Vögel kennen keine Grenzen, weder natürliche, noch willkürlich gezogene. Über Bait Dschala, einer palästinensischen Stadt, nur wenige Kilometer von Jerusalem und Bethlehem entfernt, ziehen fünfhundert Millionen Vögel jedes Jahr. Vierhundert Vogelarten mindestens.
Armband aus Zuckerperlen
Früher wurden viele von ihnen mit einer altertümlichen Steinschleuder abgeschossen, um sie einzusperren, zu mästen und zu verspeisen. Aber die Steinschleuder, weil präzise, wurde auch Kriegswaffe. So steht es auf den ersten Seiten von “Apeirogon”, scheinbar harmlos, aber kurz danach reißt uns Colum McCann heraus:
“Ein Gummigeschoss, das aus einer M16 mit aufgesetztem Metallrohr abgefeuert wird, verläßt den Lauf mit einer Geschwindigkeit von über hundertsechzig Stundenkilometern. ... Die Geschosse sind groß genug, dass man sie sehen kann, aber zu schnell, um ihnen auszuweichen.“
Bassams Tochter Abir, zehn Jahre alt, hatte sich gerade ein Armband mit Zuckerperlen gekauft, da trifft sie ein solches Geschoss am Kopf. Sie stirbt im Krankenhaus, ohne wieder zu Bewusstsein zu kommen.
Um Leben und Tod
Bassam Aramin ist “Palästinenser, Muslim, Ex-Häftling, Aktivist, verheiratet mit Salwa, Vater von Arab, Areen, Muhammad, Ahmed und Hiba und Vater der verstorbenen Abir”, die 2016 von einem israelischen Grenzpolizisten in Ostjerusalem erschossen wurde. Um nach Hause zu Frau und Kindern zu kommen, muss er Checkpoints hinter sich bringen. Wenn er Glück hat, dauert es eine Zigarettenlänge, meist aber deutlich länger. Auch ein Krankenwagen darf nicht einfach fahren, wie, wann und wohin er will. Selbst dann nicht, wenn es um Leben und Tod geht. Bassam hat einen Freund, er heißt Rami Elhanan, “Israeli, Jude, Grafikdesigner, verheiratet mit Nurit, Vater von Elik, Guy und Jigal und Vater der verstorbenen Smadar.” Ein palästinensischer Selbstmordattentäter hat seine dreizehnjährige Tochter Smadar in Jerusalem in den Tod gerissen, 1997 war das. Wie können zwei Männer Freunde sein, deren Töchter vom jeweiligen “Feind” getötet wurden?
Versöhnung statt Vergeltung
Diese Geschichte erzählt Colum McCann fesselnd, überzeugend und in ungewöhnlicher Form. Er fächert ein Kaleidoskop aus Fakten und Fiktion auf, aus Erlebtem und Erdachtem. Kunstvoll verknüpft er die vielen kurzen Texte, die sich zum Teil, aber nicht unbedingt sofort aufeinander beziehen und ergänzen, die meisten kaum eine Seite lang - immer wieder: "Stoppt die Besatzung." Insgesamt sind es 1001 Texte, die sich zu einem großen, vielstimmigen Bild über den Konflikt zwischen Israel und Palästina zusammenfügen, Texte über das Leben unter Besatzung, über Hass und Vergeltung, den Groll der Menschen, die Gnadenlosigkeit der Politiker, die vielen Opfer, die bei Anschlägen ums Leben kamen: "Es wird erst vorbei sein, wenn wir reden." Rami Elhanan und Bassam Aram begegneten sich beim “Parents Circle”, einer gemeinsamen israelisch-palästinensischen Organisation von über 600 Familien, die alle ein Familienmitglied durch den Nahostkonflikt verloren haben. "Parents Circle" will den Prozess der Versöhnung fördern, als Voraussetzung für einen nachhaltigen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern.
“Meistens treffen sie sich in den Konferenzräumen von Hotels. Oder in Schulaulen. In den Hinterzimmern von Gemeindezentren ... Immer dieselbe Geschichte, an jedem Ort unterschiedlich aufgenommen. Und genau das treibt sie an, weiterzumachen: eine begrenzte Menge Wörter in einem unbegrenzten Raum.”
Bassam und Rami erzählen die Geschichten ihrer geliebten Töchter wieder und wieder, ihren Schmerz, ihre Verzweiflung, ihre Trauer. In ihren Worten bleiben die beiden Mädchen lebendig. Es ist ein atemberaubender Parcours, den McCann seinen Leser abverlangt, aber sein faszinierendes Kaleidoskop aus kleinen und kleinsten Texten über Flucht und Krieg, Erinnerungen an Holocaust, britische Kolonialmacht und Intifada, das Wechselspiel aus Assoziationen, Dialogen Vor- und Rückblenden, historischen Bezügen und literarischen Vergleichen, Beschreibungen kultureller Unterschiede und Gemeinsamkeiten entwickelt eine magische literarische Kraft.
Wie ein Hammerschlag
Es gibt eine klare Dramaturgie: Die ersten Skizzen, Aufzeichnungen, Notizen und Protokolle von 1 bis 499 führen zum Höhepunkt: Ausführlich und bewegend erzählt erst Rami seine traurige Geschichte im Ganzen, danach Bassam. Beide sprechen von Rache und Hass und Wut und Vergeltung, “dass sie die Kraft ihrer Trauer als Waffe einsetzen würden” - bis sie im Parents Circle etwas anderes finden:
“Das war wie ein Hammerschlag auf den Kopf, der mich aus meiner inneren Erstarrung löste. Ein Forum für Hinterbliebene. Israelis und Palästinenser, Juden, Christen, Muslime, was auch immer. Zusammen. In einem Raum, um ihre Trauer zu teilen. Nicht, um sie zu benutzen oder zu feiern, sondern um sie miteinander zu teilen und zu sagen, dass kein Glaube uns vorschreibt, für immer ein Schwert in den Händen zu halten.”
Nachdem auch Bassam seine Geschichte vorgetragen hat, folgen weitere 499 Texte über das Land und seinen jahrzehntelangen Kampf. In der Mitte Kapitel 1001: In einem Kloster treffen sich Menschen aus aller Welt, um Bassam und Rami zuzuhören,
"in der steingefliesten Kapelle, in der wir stundenlang gespannt, hoffnungslos, zuversichtlich, verstört, zynisch, betroffen, schweigend zuhören, während die Erinnerungen über uns hereinstürzen, unsere Synapsen tanzen und wir uns in der vordringenden Dunkelheit all die Geschichten ins Gedächtnis rufen, die noch erzählt werden müssen."
Apeirogon ist eine Figur mit einer zählbar unendlichen Menge Seiten. Einige davon zeigt uns Colum McCann in diesem großartigen und berührenden Roman, in dem er den Palästinakonflikt historisch und empathisch greifbar macht.
(Christiane Schwalbe)
Colum McCann, *1965 in Dublin, vielfach ausgezeichneter irischer Schriftsteller, lebt in New York
Colum McCann "Apeirogon"
aus dem Englischen von Volker Oldenburg
Roman, Rowohlt, Hamburg 2020, 600 Seiten, 25 Euro
eBook 22,99 Euro