Sebastian Barry
Tausend Monde
"Ich bin Winona", so beginnt die Geschichte des jungen Mädchens aus dem Stamm der Lakota, dessen Angehörige alle getötet wurden. Ojinjintka nennt sie niemand mehr, ihren Namen gaben ihr die beiden Männer, die sie retteten und aufzogen.
Nach dem Bürgerkrieg
"John, der Kiel meines Bootes, Thomas die Ruder und die Segel." In Sebastian Barrys Roman "Tage ohne Ende" wird die Geschichte der beiden Unionssoldaten aus der Perspektive des Iren Thomas McNulty erzählt, der in John Cole seine große Liebe fand. Jetzt, um 1870, haben sie mit Winona auf Lige Masons kleiner Farm in Tennessee eine Heimat gefunden, zusammen mit den ehemaligen Sklaven Rosalee and Tennyson Bouguereau, doch nach dem Ende des Bürgerkriegs herrscht kein Frieden. Vagabundierende Rebellen, gewöhnt an Metzeleien und Verwüstung, bewahren vor allem das heftige Gefühl, ihnen sei Unrecht geschehen, und als 'Nightrider' terrorisieren sie freigelassene Sklaven und liefern sich Scharmützel mit den Milizen:
"Männer, die der Krieg so aufgebracht habe, dass sie nicht die Luft des Friedens atmen könnten, sie erstickten daran. Und dass keine neue Zeit sie zufriedenstellen könne, ganz gleich, wie nahe sie dem kämen, wofür sie gekämpft hatten."
Als Junge verkleidet
Bedrückend und sehr anschaulich schildert Barry die Stimmung im Süden der USA: Schwarze und Indianer gelten als Freiwild und sind in beständiger Gefahr. Winona, die Lesen und Schreiben gelernt hat und bei einem Anwalt arbeitet, wird vergewaltigt, nachdem man sie betrunken gemacht hat, und der polnische Einwanderer Jas Joski, der sie heiraten will und den sie durchaus gern hat, könnte der Täter sein. Als Junge verkleidet macht sich das Mädchen auf die Suche nach ihrer Erinnerung – und nach Rache, denn auch Tennyson Bouguereau wird angegriffen und verletzt.
"Er war ein Mann gewesen, der hundert Lieder kannte, doch sie waren in ihm verstummt. Ich konnte sehen, wie er sich anstrengte, Töne hervorzubringen, aber sie waren ihm nicht zu Diensten. Seine schwere Kopfwunde verheilte, doch etwas Tieferliegendes blieb beschädigt."
Reise zur Wahrheit
Sebastian Barry lässt Winona von ihrer abenteuerlichen Suche berichten, die sie als Weg zu sich selbst, ihrer Stärke, ihrem Lebenswillen und ihren Wurzeln begreift. Sie begegnet Peg, einer jungen Chickasaw, die ihr auf die Farm folgt, und sie beobachtet alles, was ihr auf ihrer Reise zur Wahrheit begegnet, mit dem genauen, nüchternen Blick einer Zeitgenossin, deren Leben in dieser Männergesellschaft des besiegten Südens wenig zählt, aber für einige Menschen bedeutsam und unersetzlich ist.
"Als Kind der Trauer konnte ich aus allem, wovon sie sprachen, die Untertöne heraushören. Den Niedergang von Dingen, die kostbar gewesen waren, den Aufstieg von Ungemach und den Wegfall aller Freuden. Es war einer dieser seltsamen Momente, in denen ich die Weißen besser verstand."
Verlierer der GeschichteI
Neben seiner dichten poetischen Sprache ist es die große Nähe zu seinen Personen, sein scharfer Blick auf die Verlierer der Geschichte, die Sebastian Barrys Prosa so außergewöhnlich macht. Tausend Monde, so die Lakota, seien vergangen, doch die Menschen, die damals lebten, sind in ihrer Überlieferung nicht vergessen, sondern höchst lebendig, und das Gespür für diese Resonanzräume verbindet sich hier mit der spannenden Geschichte einer jungen Frau, die schließlich des Mordes angeklagt wird und in eine fast aussichtslose Lage gerät.
"Man hätte nicht gewusst, was ich war, außer eben eine Lakota. Ein kleines, armes Mädchen, wie in einer alten Geschichte."
Wie ein mehr als sechzig Jahre alter irischer Schriftsteller, also ein 'alter weißer Mann', einer 18jährigen Frau vom Stamm der einem Genozid zum Opfer gefallenen Lakota eine lebendige, eindrucksvolle Stimme verleihen kann, ist ein schönes Beispiel für die Kraft schriftstellerischer Fantasie. Und widerlegt zugleich alle, die auf der Welle der Identitätspolitik reiten und Literatur auf die Opferperspektive verengen wollen.
(Lore Kleinert)
Sebastian Barry, *1955 in Dublin, bekannter und vielfach ausgezeichneter irischer Autor von Theaterstücken, Lyrik und Prosa
Sebastian Barry "Tausend Monde"
aus dem Englischen übersetzt von Hans-Christian Oeser
Roman, Steidl Verlag 2020, 256 Seiten, 24 Euro
Weiterer Buchtipp zu Sebastian Barry
"Tage ohne Ende"