J. L. Carr
Ein Monat auf dem Land
Ein Sommer im Jahre 1920, ein kleines Dorf in Yorkshire: Als der junge Restaurator Tom Birkin in Oxgodby ankommt, regnet es in Strömen, seine Frau hat ihn verlassen und der Krieg hat ihn gezeichnet. Doch hier findet er eine Oase des Friedens vor, seine Albträume von Schützengräben und Maschinengewehrfeuer quälen ihn nicht mehr jede Nacht, und das unkontrollierbare Zucken seines Gesichts lässt nach.
Klarer als Worte
Und das Bild in der anglikanischen Kirche, das er mit Geld aus dem Erbe einer reichen Landbesitzerin, Miss Hebrons Vermächtnis, wiederherstellen soll, erweist sich rasch als großartige Darstellung des Jüngsten Gerichts aus dem Mittelalter.
"Hier war ich, von Angesicht zu Angesicht mit einem namenlosen Maler, der sich aus der Dunkelheit an mich wandte und in seiner Sprache, klarer als Worte es vermochten, zu mir sagte: ‚Wenn ein Teil von mir dazu bestimmt ist, vor dem Verfall verschont zu bleiben, dann soll es dieser sein. Denn so ein Mensch war ich.‘ "
Während Birkin das Kirchenschiff erkundet, in dessen Glockenturm er sich einquartiert hat, und bei seiner Arbeit Schicht für Schicht durch Kalktünche und Ruß aus vielen Jahrhunderten zu den leuchtenden Farben vordringt, öffnet er sich allmählich auch dem Dorf selbst - der Familie Ellerbeck, die ihn in ihr alltägliches Leben einlädt, der kleinen methodistischen Gemeinde, der schönen Frau des Pfarrers, die ihm bei der Arbeit zuschaut.
Wie ein Traum
"Doch dann wurde ich, wie es sich eben so zuträgt, in das sich vor meinen Augen verändernde Gemälde namens Oxgodby hineingezogen, zuerst durch mein samstägliches Schiedsrichteramt beim Kricket und später dann in der Kapelle der Methodisten. Und merkwürdigerweise war alles das, was draußen geschah, wie ein Traum. Das im Innern der stillen Kirche, vor dem langsam wieder auftauchenden Bild, das war real."
Mit Moon, der, Kriegsveteran wie er selbst und als Archäologe ebenfalls durch Miss Hebrons Erbe mit der Freilegung ihres Familiengrabs beauftragt, entwickelt sich eine Freundschaft, die auch die Verwundungen durch den Krieg nicht ausspart. J. L. Carr verbindet Schilderung der sorgfältigen, professionellen Arbeit der beiden Männer mit der Erfahrung von Heilung und Lebensfreude, die der junge Restaurator auf ganz schlichte und beglückende Weise erlebt.
Freuden des Sommers
Der Autor beschwört die Freuden dieser Sommermonate mit großer Leichtigkeit und beiläufigem Humor: das Gleichmaß schöner Tage, die Predigten der kleinen Leute, deren Mundart in Tom Birkins Ohren wie eine Fremdsprache klingt, die Hilfe bei der Getreideernte, längst vergessene Gebräuche oder die Kutschfahrten mit Pferden,
"dekoriert wie Generäle… – nicht lange mehr, und diese großartigen, magischen Wesen würden von den Straßen und Feldern verschwinden. Wusste ich es damals schon? Wohl kaum, ebenso wenig wie jemand anders in Oxgodby."
Tom Birkin erlebt, wie sehr ihn die Schönheit der Landschaft, des kleinen Orts und des großartigen Bildes, das er aus dem Vergessen befreit, berühren und verändern, und auch die heimliche Liebe zur schönen Pfarrersgattin Alice Keach wird Teil seines Traums, aus dem er Zuversicht in die verloren geglaubte Zukunft gewinnt.
Verborgene Saiten
Aber der Autor ist sich, wie ein guter Maler, darüber im Klaren, dass erst Schatten die Farben in einem Bild zum Leuchten bringen, und weil er einen viel älteren Tom Birkin sich an diesen Sommer in Oxgodby erinnern lässt, grundiert sich die kleine Erzählung mit Melancholie und dem Wissen darum, dass "wir das, von dem wir einst glaubten, es würde uns auf ewig gehören, nicht wiederbekommen".
Und so erweist sich diese Erzählung, die 1980 für den Booker-Preis nominiert war, als schönste Entdeckung dieses Sommers, 22 Jahre nach dem Tod von J. L. Carr in Monika Köpfers feinfühliger und genauer deutscher Übersetzung. Ein kleines Juwel und großes Lesevergnügen, das verborgene Saiten zum Klingen bringt, wenn wir ihm mit sommerlicher Muße begegnen.
(Lore Kleinert)
J.?L.?Carr *1912 in der Grafschaft Yorkshire, war Lehrer, gründete 1966 einen eigenen Verlag und verfasste acht Romane, 1994 an Leukämie gestorben
J. L. Carr "Ein Monat auf dem Land"
"A Month in the Country" übersetzt von Monika Köpfer
DuMont Buchverlag 2016, 144 Seiten, 18 Euro
eBook 13,99 Euro