Kamila Shamsie
Die Straße der Geschichtenerzähler
Vivian Rose ist eine mutige und emanzipierte junge Frau. Was auch an ihrem Vater liegt, der sich eigentlich einen Sohn wünschte und nun seiner Tochter Privilegien einräumt, die es für Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts nicht gab. Weder in London noch anderswo.
Erster Weltkrieg
Sie darf als Archäologin nach Labraunda reisen, ein antikes Heiligtum in der heutigen Türkei, wo sie einem Freund der Familie bei Ausgrabungen hilft und sich in ihn verliebt. Aber der erste Weltkrieg bricht aus und zerstört größere Hoffnungen, Vivian wird als Krankenschwester in Lazaretten in London eingesetzt. Das ist der eine Erzählstrang.
An der Front verheizt
Der andere berichtet von zwei Sepoys, indischen Soldaten, die sich für das Empire an den europäischen Fronten verheizen ließen. Zwei von ihnen überleben und kehren nach Pakistan zurück; der eine stirbt später an seinen Verletzungen, der andere überlebt seine schwere Verwundung, verliert aber ein Auge. Seinem kleinen Bruder wird die junge Vivian Rose später in Peshawar begegnen, ihn unterrichten und mit der Faszination antiker Stätten vertraut machen.
Gewaltloser Aufstand
Und dann gibt es da noch das Volk der Paschtunen mit ihrer sehr eigenen Kultur und den gewaltlosen Aufstand freiheitsliebender, unbewaffneter sogenannter "Rothemden" in Peshawar, der von den Briten brutal niedergeschlagen wird. Im Umgang mit Unruhestiftern waren die Kolonialherren nicht eben zimperlich. Das dramatische Geschehen ereignet sich auf der "Straße der Geschichtenerzähler."
Reich an Fakten
Die in London und Karatschi lebende pakistanische Autorin Kamila Shamsie hat einen historischen Roman geschrieben, in dem sie diese Erzählstränge miteinander verzahnt und verknüpft - nicht eben leicht nachvollziehbar für den Leser, der ihr beim gleichwohl spannend erzählten Geschehen nicht immer gleich folgen kann. Es wimmelt in diesem Roman von Bezügen, Rückblicken, aktuellen Ereignissen und Personen, und wer die Geschichte der britischen Kronkolonie nicht kennt – das tun vermutlich nur wenige, die diesen Roman zu lesen beginnen – der muss sich die Informationen zusammensuchen, um den roten Faden nicht zu verlieren.
Zwischen Antike, Orient und Okzident
Nicht nur das: Shamsies Geschichte beginnt noch viel früher, um 515 vor Christus, als Skylax, ein Geograph aus Karien (heute Türkei, s.o.), den Indus hinunterfuhr, im Gepäck einen wertvollen Silberreif, auf dessen Spur Vivian Rose vom geliebten Freund ihres Vaters gebracht wird. Mit tödlichen Folgen. Diesen Silberreif will sie finden.
Und so pendelt der Roman hin und her zwischen Liebe und Tod, Antike, Okzident und Orient, Islam und Buddhismus, kolonialer Macht und einheimischer Unterwerfung, Unterdrückung der Frau und Erwachen ihrer Emanzipation: Exotisch, mit großer Lust am Erzählen, einem dramatischen Showdown, aber in manchen Kapiteln auch sehr überladen.
(Christiane Schwalbe)
Kamila Shamsie *1973 in Karatschi/Pakistan, lebt in London und Karatschi
Kamila Shamsie "Die Straße der Geschichtenerzähler"
Übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer
Berlin Verlag 2015, 384 Seiten, 19,99 Euro
eBook 15,99 Euro