Lawrence Osborne
Denen man vergibt
"Nicht alle Wege führen zum Herzen“ heißt es in einem marokkanischen Sprichwort, das der Autor seinem Roman voranstellt. Die Autofahrt des englischen Ehepaars David und Jo ins marokkanische Hinterland beginnt mit Gezänk und Missvergnügen.
Maßlos überschätzt
Auf einer einsamen Wüstenstraße auf dem Weg zur illustren Party, die ein englischer Freund jedes Jahr ausrichtet, wird ein junger Berber Opfer des alkoholisierten David. Von Aggressionen und Vorurteilen getrieben, hat der englische Arzt sich vor allem seiner Frau gegenüber kaum unter Kontrolle und überschätzt sich maßlos.
"Er trieb Menschen gern in die Enge, wenn er das Gefühl hatte, dass ihr Ärger einer Sturheit und Heuchelei entsprang, was bei Jo mit Sicherheit der Fall war. Er verstand sich selbst als jemanden, der anderen half, Fehler abzulegen und sich von Vorurteilen zu befreien…Es ging darum, Ordnung in die Liebe zu bringen und die Monster in Schach zu halten."
Orgiastische Party
Doch mit diesem Unfall sind die Monster freigelassen. Die beiden nehmen den Toten mit zum "Ksar", dem herrlich hergerichteten Anwesen ihrer beiden homosexuellen Freunde. Während sich die ausländischen Gäste den sorgfältig vorbereiteten Exzessen mit einem Übermaß an Speisen und Getränken, Drogen und Unterhaltungen aller Art hingeben, trennen sich die Wege: David, in den Augen der Einheimischen ein Mörder, fährt mit dem Vater des Toten in die Berge, denn der alte Mann besteht darauf, dass er an der Beerdigung des Sohnes teilnimmt. Seine Frau, Anfang vierzig und eine wenig erfolgreiche, unzufriedene Kinderbuchautorin lässt sich auf die Verführungen ein, die sich während der orgiastischen Party bieten.
"Ihr gärender Hass auf David, den sie so lange unterdrückt hatte, verwandelte sich in Champagnerbläschen und löste sich in nichts auf. Selbst Hass hat eine süße Seite, wenn er verfliegt."
Veränderte Wahrnehmung
Der Londoner David, dessen tiefes Unverständnis für die Lebensverhältnisse der Marokkaner kaum verhüllter Rassismus ist, erfährt in der Begegnung mit Abdellah, der in den Steinbrüchen nahe der algerischen Grenze vom Abbau hochwertiger Ammoniten lebt, dass seine Angst, ausgeraubt zu werden, sich an diesem Ort nicht bestätigt. Die kleinen Veränderungen seiner Wahrnehmung, aufgezwungen zwar durch die ungewöhnlichen Umstände, demonstrieren eindringlich, wie unzulänglich der touristische Blick und der mangelnde Respekt vor dem Fremden ist. Der Marokkaner erweist sich als reflektierter Mensch, der sich seiner Armut bewusst ist:
"Ich mag alles, was kalt und erfrischend ist. Ihr scheint immer zu glauben, dass wir gern in diesem Glutofen leben. Aber glaubt ihr wirklich, wir lieben Kamele, Sand, Palmen und schon am Morgen vierzig Grad? Ganz und gar nicht. Die meiste Zeit träume ich von Schweden. Ein fantastisches Land, so wie es aussieht. Dort würde ich am liebsten leben."
Gesellschaftliche Gegensätze
Anders als die Europäer und auch anders als sein toter Sohn Driss, dessen Stimme und Geschichte der Autor im Rückblick ebenfalls hörbar werden lässt, ist er stoisch überzeugt, keine andere Wahl zu haben:
"Die Wüste ist das Meer, in dem wir fischen, und die Fossilien sind unsere Fische. Tote Fische! Es ist ein Witz. Gott hat sich einen Scherz mit uns erlaubt."
Sein Sohn hingegen, und das ist eine der vielen kunstvollen Irrwege, auf die Osborne die Leser einlädt, ist nicht nur ein Opfer. Als Mörder ist er aus Europa zurückgekehrt, ohne den erwünschten Erfolg im fremden Land, und dennoch hatte er keineswegs die Absicht, ein Leben wie das seines Vaters zu führen. Der Autor, der selbst in Marokko gelebt hat, kennt die tiefen Risse, die sich durch diese Gesellschaft ziehen. Vor allem beschreibt er den Zusammenprall der ländlichen Gemeinschaften mit der Lebensweise der reichen Fremden, ihren Festen und Ausschweifungen aufs genaueste, und in Fragen der Moral, der Religion, der Werte scheint es keine Verständigung zu geben.
Herz aus Stein
Hamid etwa, der hocheffiziente Manager des "Ksar" nimmt eine Vermittlerrolle zwischen den Angestellten, den Gästen und seinen Chefs ein, während er für den endlosen Nachschub an Eis, Alkohol und Drogen sorgt. Der gute Beobachter, durchaus in beiden Welten zu Hause, ist
"angewidert von sich selbst, weil er weiterhin in den Diensten Dallys und Richards bleiben würde, deren Freunde so nichtswürdig waren. Er blieb, weil er Geld brauchte und die Krankenhausrechnungen seines Vaters stiegen. Er saß in der Falle notwendiger Ehrlosigkeit."
Lawrence Osborne blendet immer wieder ein, wie bitter sich diese Falle für die ausnimmt, die kaum eine Wahl haben, und wie wenig den Ausländern bewusst ist, dass die Falle auch für sie zuschnappen kann. Der Blick der Armen auf sie ist nicht mehr von der Hoffnung auf ein besseres Leben getragen:
"Sie schienen keinerlei Reue zu empfinden. 'So sind sie eben', dachte Hamid mit der ihm eigenen Bitterkeit. 'Sie haben ein Herz aus Stein, wenn es um uns geht. Für sie sind wir nicht mehr wert als Fliegen.'"
Wege und Irrwege
Mit "Denen man vergibt" ist Lawrence Osborne ein Roman gelungen, der über die präzise und amüsant geschilderten Verästelungen einer zerfallenden Ehe weit hinausgeht. Sehr zu Recht mit Graham Greene oder Somerset Maugham verglichen, rückt dieser Autor in seinem erst zweiten Roman immer wieder den Blickwinkel der Leser zurecht, indem er uns die Wege und Irrwege durch die Augen des englischen Paares, ihrer Gastgeber, der Diener und der Berber in den Bergen betrachten lässt, mit britischer Kühle und Ironie, beträchtlichem Feingefühl und in eleganter Sprache. Wenn Armut und Anmaßung kollidieren, stellt sich die Frage nach Schuld, Strafe und Vergebung neu - und nicht mehr abstrakt. Eine großartige Entdeckung des Wagenbach-Verlages!
(Lore Kleinert)
Lawrence Osborne *1958 in England, Journalist und Schriftsteller, lebte u.a. in Paris, New York und jetzt in Bangkok
Lawrence Osborne "Denen man vergibt"
"The Forgiven" übersetzt aus dem Englischen von Reiner Pfleiderer
Roman, Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2017, 272 Seiten, 22 Euro
eBook 19,99 Euro