Mohsin Hamid
Exit West
Sie trägt ein langes schwarzes Gewand, damit die Männer ihr nicht blöd kommen, sie ist Muslimin, aber nicht verschleiert, fährt trotz ihrer traditionellen Kleidung mit dem Motorrad zur Arbeit. Nadia hat sich von ihren Eltern losgesagt, will emanzipiert leben, frei.
Ein Flickenteppich
Auch Saeed ist Muslim, aber eher konservativ. Er fühlt sich den religiösen Ritualen verpflichtet, er betet regelmäßig und wohnt noch bei seinen Eltern. Sex gibt es für ihn erst nach der Hochzeit. Die beiden leben in einer namenlosen, vom Bürgerkrieg gebeutelten Stadt – sie könnte in Syrien liegen, aber auch in jedem anderen Land, in dem der Krieg das Leben der Menschen unerträglich macht.
"Die Kämpfer standen sich dicht gegenüber, ...in erschreckend kurzen Abständen fiel ein Viertel nach dem anderen den militanten Kräften in die Hände, sodass in der Vorstellung von Saeeds Mutter die Karte des Ortes, in dem sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte, allmählich einem alten Flickenteppich glich, gewebt aus Flicken, die Regierungsterrain darstellten, und solchen, die für das von den Extremisten eroberte Gebiet standen."
Offene Türen
Nadia und Saeed werden ein Paar in einer Art Endzeit, in der die Normalität des Lebens nur noch darin besteht, sich in zerschossenen Wohnungen zu verbarrikadieren. Es gibt keine Arbeit mehr, keine funktionierenden Strukturen, kein Geld. Nur noch Angst vor der Zerstörung. Die beiden beschließen, ihr Land zu verlassen – mit dem Segen von Saeeds Vater, denn Nadias Elternhaus steht nicht mehr, ihre Eltern sind verschwunden. Die beiden bezahlen einen Schleuser, steigen aber weder in ein Flugzeug, noch in ein Boot, noch machen sie sich zu Fuß auf den Weg – Mohsin Hamid eröffnet ihnen einen leichteren, märchenhaften Weg:
"Türen begannen für die Menschen eine ganz neue Bedeutung zu bekommen. Gerüchte machten in jüngster Zeit die Runde, die besagten, dass es Türen gab, durch die man überallhin gelangen können, nicht selten an weit entfernte Orte weit weg von dieser Todesfalle von einem Land."
Nicht erwünscht
Nadia und Saeed gehen durch eine solche Tür - und landen auf einer Insel: Ein Flüchtlingscamp auf Mykonos ist ihre erste Station,
"… es kam ihnen wie ein Wunder vor, obwohl es kein Wunder war, sie befanden sich ganz einfach an einem Strand. … und die Menschen saßen um Lagerfeuer herum, die sie in leeren Ölfässern entzündet hatten, und unterhielten sich in einer Kakophonie von Sprachen aus aller Welt."
Flüchtlingsglück, dem Krieg entronnen, Flüchtlingsleid, nicht erwünscht zu sein, in Lager abgeschoben zu werden, in denen um Decken und Lebensmittel gefeilscht werden muss und Handys die einzige Verbindung nach draußen sind. Nadia und Saeed erleben beides, schlagen wie Tausende andere die Zeit tot, bis sie den Weg durch eine weitere Tür schaffen – und in London landen.
Zwischen Fiktion und Realität
Mohsin Hamid treibt ins Extrem, was Alltag in Flüchtlingsheimen ist, konstruiert ein Migrantenghetto, das von einem ausländerfeindlichen Mob angegriffen wird. Er beschreibt die Selbstorganisation von Geflüchteten gleicher Herkunft, die sich zu einer Art Flüchtlingsrat entwickeln, und schließlich ist
"von einer groß angelegten Operation die Rede, mit der die Briten Großbritannien zurückerobern wollten, eine Stadt nach der anderen, beginnend mit London."
Fiktion und Realität vermischen sich in diesem Roman, der auch die Vision einer Völkerwanderung von Süden nach Norden beklemmend und bedrohlich ins Visier nimmt. Genauso wie die Trostlosigkeit des Flüchtlingsdaseins, ihr Leben als Unerwünschte, ihre Ängste vor Ablehnung. Hamid konstruiert schließlich, was Ausländerfeinden das liebste wäre: Die unwillkommenen Menschen in eine extra für sie gebaute Stadt abzuschieben.
Gedankenspiel
Eine Welt der offenen Türen ist eine Illusion, gewiss, und Hamids Gleichnis beleuchtet das Problem von Flucht und Migration auf sehr ungewöhnliche Weise. Geflüchteten in einer nur für sie geschaffenen Stadt eine neue Heimat geben zu können, ist dabei weder politisch noch menschlich eine Lösung. Aber sein Buch ist ein eindrücklicher Appell, eine bessere und humanere Welt zumindest zu denken - auch, wie man besser vorbereitet sein könnte auf Menschen, die nicht aufhören werden, ihre Heimat zu verlassen, um ein Leben in Frieden zu finden. Denn die aktuellen Flüchtlingsbewegungen sind erst der Anfang.
(Christiane Schwalbe)
Mohsin Hamid, *1971 in Lahore, Pakistan, studierte Jura in Harvard und Literatur in Princeton, freier Journalist für US-Zeitungen, seine Romane wurden in über 30 Sprachen übersetzt, lebt wieder in Lahore
Mohsin Hamid "Exit West"
Aus dem Englischen von Monika Köpfer
Dumont 2017, 224 Seiten, 22 Euro
eBook 17,99 Euro