Zadie Smith
Swing Time
Als Kind hat sie den Film "Swingtime" mit Fred Astaire oft gesehen, aber ein Kindheitsbild komplett aus dem Gedächtnis verbannt: "Einen Fred Astaire mit schwarz geschminktem Gesicht … das Augenrollen, die weißen Handschuhe, das Bojangles-Grinsen."
Nur ein Schatten
Astaire tanzt mit drei Schatten, und als sie diesen Ausschnitt nach vielen Jahren wieder sieht, erlebt sie sich selbst "als eine Art Schatten":
"Mir wurde eine Wahrheit offenbar: dass ich immer versucht hatte, mich an das Licht anderer anzuschließen, dass ich selbst nie ein Licht in mir gehabt hatte."
Traurige Erkenntnis für eine Frau Anfang dreißig, die durch die Welt gejettet ist, fristlos entlassen wird, abgestempelt als "rachsüchtige Exangestellte" eines weltberühmten Popstars, und vor lauter Arbeit nicht mitbekommen hat, dass ihre Mutter todkrank im Hospiz liegt.
Enge Freundinnen
Zadie Smith erzählt in der Rückschau die Geschichte zweier Mädchen, die als Kinder eng befreundet sind. Sie wachsen im gleichen Arbeiterviertel in Londons Nordwesten auf, sind sozial unterprivilegiert und afro-amerikanisch - einer ihrer Eltern ist schwarz: Bei Tracey ist es der Vater, der entweder im Gefängnis sitzt oder nach Jamaika abhaut, bei der namenlosen Ich-Erzählerin ist es die Mutter, eingewandert aus Jamaika und stolz auf ihre Hautfarbe. Nicht nur das, sie ist Aktivistin, ehrgeizig, gebildet, engagiert sich erfolgreich politisch, versucht, auch ihre Tochter auf diesen Weg zu schicken. Aber die interessiert sich vor allem für's Tanzen, obwohl sie nur mäßig begabt ist. Beide Mädchen haben Ballettunterricht und träumen von der großen Karriere, hocken vor dem Fernseher und studieren alte Musicals. Irgendwann weiß die eine alles über Fred Astaire und Ginger Rogers, während Tracey, die andere, sich längst für Popmusik interessiert.
Zwischen den Stühlen
Tracey versucht sich als Tänzerin zu profilieren, bekommt aber auch nur eher kleine Engagements und driftet schließlich doch wieder ins (prekäre) Dasein einer Hausfrau und Mutter ab. Die Ich-Erzählerin geht zwar aufs College, aber ohne Ambitionen. Sie wird schließlich Assistentin der berühmten und charismatischen Aimee. Eine neue Welt tut sich auf, die der Reichen und Schönen. Zu der fühlt sie sich letztlich genauso wenig zugehörig, wie zur Welt der Schwarzen oder Gebildeten oder des Tanzes. Sie steht stets zwischen den Stühlen, passt sich an, fügt sich ein – eine eigene Identität findet sie nicht. Und so geht sie fortan auch mit Haut und Haaren in einem Job auf, der sie nahezu symbiotisch an einen Weltstar bindet, in dem man unschwer Madonna erkennen kann, und der eine nahezu magische Anziehung auf sie ausübt:
"Bei ihr war alles eine Frage des Willens. Zehn Jahre lang beobachtete ich, wie übermächtig dieser Wille sein und was er alles bewerkstelligen konnte ...faktisch erschien mir das alles wie eine ganz eigene Form von Energie, eine Kraft, die eine Dehnung der Zeit erzeugen konnte, als bewegte sich Aimee tatsächlich mit Lichtgeschwindigkeit voran, fort von uns allen, die wir hier auf Erden gestrandet waren …"
Gefühl für das Leben
Aimee ist wohltätig, sie engagiert sich, will in einem westafrikanischen Dorf eine Mädchenschule aufbauen, sich mit Charity schmücken. Und mit schwarzen Kindern. Eines adoptiert sie schließlich, besser gesagt, sie kauft es. Mit Geld lässt sich fast alles erreichen, auch das ist eine Lehre, aber wirkliches Verständnis für die fremde Kultur in Afrika, für die Armut der Dorfbewohner, aber auch für ihren Stolz und ihre Traditionen, gewinnt man nicht mit werbewirksamer Wohltätigkeit, sondern mit einem Gefühl für ihr Leben. Das spürt die Ich-Erzählerin zwar, aber sie befreit sich nicht, bleibt Sklavin, wie ihre Mutter ihr vorwirft:
"Du hast kein Leben. Sie hat ein Leben. Sie hat ihre Männer, ihre Kinder, ihre Karriere – sie hat das Leben. Wir lesen alle in der Zeitung darüber. Du dienst ihrem Leben. Sie ist wie eine riesige Saugglocke, saugt dir die Jugend aus, nimmt all' deine … Zeit in Anspruch."
Bis die Beziehung endet - mit einem Knall und einem Skandal und der Tatsache, das sie sich nun nicht mehr drücken kann vor der eigenständigen Lebensgestaltung.
Berührende Bilder
Zadie Smith verarbeitet eine Unmenge von (gut recherchiertem) Material, vieles aus der eigenen Biografie – aber bei dieser überbordenden Fülle verschwindet der rote Faden leider schon mal. Sie durchleuchtet Klischees und Vorurteile von Hautfarbe und Herkunft, findet einprägsame und berührende Bilder für Personen und Situationen - insbesondere, wenn es um das afrikanische Schulprojekt geht: Welche Bedeutung für einen Schwarzen sein blütenweißes Hemd hat, warum er an dem (westlichen) Statussymbol einer Uhr hängt, selbst wenn sie nicht mehr tickt, wie albern ein kleines Spielzeugauto als Geschenk wird, wenn es keine Batterien zu kaufen gibt, und wie kostbar von weither geholtes Wasser ist, das man nicht verschwenden darf, um ein Insekt zu jagen.
Suche nach Identität
Das ist temporeich und fesselnd geschrieben, Schauplätze und Situationen wechseln schnell. Mit der Ich-Erzählerin springen wir hin und her zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen London, New York und einem westafrikanischen Dorf. Es ist ein hektisches Leben, bei dem die Ich-Erzählerin ebenso wie Tracey immer auf der Suche nach ihrem eigenen Ich ist, nach Identität und Zugehörigkeit, einem Platz im Leben und einem Bewusstsein für ihre Herkunft. Nicht zuletzt ist es ein Buch über den Tanz als lebendige und zeitlose, im Glücksfall über sozialen Unterschieden stehende Sprache.
(Christiane Schwalbe)
Zadie Smith, *1975 in London, englische Schriftstellerin, ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, ihr erster Roman erschien 2001, lebt in New York
Zadie Smith "Swing Time"
Übersetzt aus dem Englischen von Tanja Handels
Roman, Verlag Kiepenheuer & Witsch 2017, 627 Seiten, 24 Euro
eBook 19,99 Euro