Rachel Cusk
Transit
Faye, Schriftstellerin und Ich-Erzählerin, die wir aus "Outline" kennen, ist wieder in London - die Scheidung hinter sich, die ungewisse Zukunft vor sich und in einer Reihenhaushälfte wohnend, die erst mal komplett saniert werden muss, damit man darin mit zwei Kindern leben kann. Schlechtes Haus, aber gute Gegend.
Menschliche Größe
Die "weibliche Odyssee im 21. Jahrhundert" geht weiter, Faye lebt in einem Zustand des Übergangs, vorausgesagt von einer astrologischen Spam-Mail: Nach einer Zeit des Leids ist es notwendig "unseren Glauben an die menschliche Größe wiederzufinden". Keine ganz leichte Übung angesichts von Schutt, Staub, Müll und Kälte, dazu keifende Nachbarn aus dem Kellergeschoss, die ihr, den Lärm verfluchend, das Leben schwer machen.
Fass ohne Boden
Faye bleibt cool, eine ihrer wichtigsten Eigenschaften im Chaos des sie umgebenden Lebens, egal, ob der polnische Bauunternehmer ihr prophezeit, dass die Wohnung ein Geldgrab sei, "ein Fass ohne Boden", oder Gerard, ihr Ex, Erinnerungen hervorkramt; sie begegnet ihm auf der Straße und er erzählt, dass er nach der Trennung aus lauter Verzweiflung die gemeinsame Wohnung komplett umgebaut und wochenlang in Geröll und Dreck gelebt habe:
"Ist doch seltsam,… dass Du ständig alles verändert hast und ich nichts und wir trotzdem am selben Ort gelandet sind."
Verlorene Träume
Faye ist eine glänzende Beobachterin, ob beim Friseur, bei literarischen Veranstaltungen oder bei der Party eines Freundes – immer spürt sie in ihrem Gegenüber die Geschichten auf, die ihn bewegen: Kindheit, kaputte Ehe, ein verstörtes Kind, Lebensangst, Narzissmus, Depression, verlorene Träume und unerfüllte Sehnsüchte. Es sind prägende Erlebnisse, bis in die Gegenwart wirksam, schwer zu verarbeiten. Rachel Cusk schafft Szenen von großer Intensität, in denen beschädigte Menschen sichtbar werden, die sich zusammentun und das Leben schwer machen, oder allein und einsam bleiben.
Ungewollter Schwebezustand
Das Schicksal schickt sie manchmal in einen ungewollten Schwebezustand – wie den Bauunternehmer aus Polen, der lieber in seinem schönen, selbst gebauten Haus bei seiner Familie wäre:
"... riesige Fenster, vom Boden bis zur Decke. Von jedem Zimmer sei der Wald zu sehen, sogar vom Bad aus, so dass man das Gefühl habe, im Freien zu wohnen."
Aber in England hat er einen Job gefunden. Faye trifft auf die Studentin mit einer Schwäche für ältere Männer, die unbedingt über einen eher unbekannten Maler schreiben will, weil sie sich ihm seelenverwandt fühlt, essgestört ist und Lebensmittel lieber fotografiert statt sie zu essen. Und mit Lawrence und seiner neuen Frau begegnet sie dem verzweifelten Versuch, sich das Leben schön zu biegen, koste es, was es wolle.
Immer im Hintergrund
Szenen aus dem Leben von Freunden, Bekannten, Nachbarn, distanziert, fast unbeteiligt betrachtet, manchmal urkomisch, wenn Faye zusammen mit anderen Schriftstellern durch den Regen rennt, um triefend nass auf dem Podium über Bücher zu reden. Während zwei männliche Kollegen sich in narzisstischer Selbstbespiegelung zur Schau stellen, trägt Faye nur einen schlichten Text vor – weder erfahren wir etwas über den Inhalt, noch über die Reaktionen. Sie bleibt auch hier im Hintergrund, gibt mit Fragen und kurzen Kommentierungen lieber den Anstoß für die nächste überraschende Geschichte von Menschen in Übergangssituationen:
"Er hatte ganz Europa bereist, war aber nie in eine funktionierende Gesellschaft eingetaucht, sondern immer nur in einen bunten Haufen orientierungsloser Menschen, die ebenso ortsfremd waren wie er. Die Wirklichkeit, die er kennengelernt hatte, war ihm unwirklich erschienen."
Kunstvoll erzählt
Rachel Cusk erzählt dicht und bildhaft, stilistisch kunstvoll, oft indirekt und mit einer subtilen, hintergründigen Spannung, die den Leser von einer Episode zur nächsten trägt, in der Hoffnung, endlich mehr über diese Faye zu erfahren. Stattdessen führt sie uns in ihre Schreibgruppe und zum Herrchen eines Salukis, der die aufregende Geschichte dieser exotischen Jagdhunde erzählt. Ein Roman aus fein ineinander verwobenen, entlarvenden und berührenden Momentaufnahmen von Menschen, die in schleichenden oder akuten Krisen stecken, ihr Leben stoisch ertragen oder umkrempeln, wahrgenommen werden wollen, auch bewundert, und auf der Suche nach nichts Geringerem als dem Sinn des Lebens sind.
"Beim Zuhören, sagte ich, habe ich mehr dazugelernt, als ich jemals für möglich gehalten hätte."
(Christiane Schwalbe)
Rachel Cusk, *1967 in Kanada, englische Autorin, die seit ihrer Jugend in England lebt
Rachel Cusk "Transit"
"Transit" aus dem Englischen übersetzt von Eva Bonné
Roman, Suhrkamp 2017. 238 Seiten, 20 Euro
Ebook 16.99 Euro
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