Fatma Aydemir
Dschinns
„Vielleicht sind das die Dschinns, die Wahrheiten, die immer da sind, die immer im Raum stehen, ob man will oder nicht, aber die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen, dass sie im Verborgenen bleiben für immer.“
Sehnsucht nach einem Zuhause
Zweimal sprechen die inneren Stimmen in Fatma Aydemirs Roman ganz direkt: Zu Beginn zu Hüseyin, dem Familienvater, der fast dreißig Jahre lang in Deutschland schuftete, während er vier Kinder großzog. Jetzt, am ersten Tag in seiner neuen Wohnung in Istanbul, dem ersehnten Zuhause, stirbt er, während er auf seine Familie wartet, und alle Hoffnungen und Vergeblichkeiten seines Lebens ziehen an ihm vorüber. Und am Ende des Buchs ist es Emine, die er vor dreiunddreißig Jahren heiratete, später nach Deutschland holte, die nach seinem Begräbnis von den Stimmen in ihrem Kopf an alles erinnert wird, was in ihrem Leben nicht aufging. Was waren die Ursachen für ihre Bitterkeit und Angst?
Suche nach Wahrheit
Ihre älteste Tochter Sevda fordert sie heraus und zwingt sie, der Wahrheit nicht länger auszuweichen. Aber was Wahrheit sein könnte, beleuchtet Fatma Aydemir auf ungewöhnliche Weise, indem sie in die Geschichten der Kinder dieser türkisch-kurdischen Familie blendet und für jede dieser Geschichten eine eigene Sprache findet, pointiert, zart und drastisch, und von ausgeprägter Musikalität.
„Vielleicht ist Familie ja nichts anderes als das, ein Gebilde aus Geschichten und Geschichten und Geschichten. Aber was bedeuten dann die Leerstellen in ihnen, das Schweigen? Sind sie die Lücken, die das ganze Konstrukt am Ende zum Einsturz bringen werden? Oder sind sie die Luft, die wir zum Atmen brauchen, weil die Wahrheit, die ganze Wahrheit unmöglich zu ertragen wäre?“
Angst vor Gefahr
Die Autorin weiß sehr genau, was in einer türkischen Familie Ende der neunziger Jahre schwer zu ertragen war, und wie sich die Schweigezonen zwischen den Menschen entwickelt und ausgebreitet haben. Sevda, die Älteste, wurde vom Vater spät nach Deutschland nachgeholt, um den Schulbesuch gebracht, und dennoch wurde sie eine starke Frau. Der Angst ihrer Mutter vor ständig drohenden Gefahren im fremden Land setzte sie schließlich ein eigenständiges Leben entgegen, ohne den saufenden Ehemann und mit eigenem Geschäft. Für ihre Schwester Peri ist ihre kurdische Herkunft nur mehr eine ferne Sehnsucht und ihr Studium in der Großstadt ein Weg aus allen Bindungen, denen an die Herkunft und die familiären Engpässe. Glück versprach auch das nicht.
„Assimilation, dachte Peri, hatte eben keine Geschichte. Sie war das Gegenteil von Geschichte. Sie war ihr Ende, ihre Ausrottung. Sie war die Leere im Herzen, wann immer jemand von Heimweh sprach.“
Soundtrack der Kindheit
Die Brüder Hakan und Ümit haben den Druck, sich in einer unfreundlichen und anmaßenden Gesellschaft zu behaupten, auf unterschiedliche Weise erlebt: der ältere Hakan empfand Schweigen als „Soundtrack seiner Kindheit“ und reagierte mit Verweigerung und Aggression, während Ümit, der noch zu Hause wohnt, gezwungen ist, seine Gefühle beständig zu verleugnen.
„Und doch zerdrückte es Hakan das Herz, dass er nun für immer wusste, wie hilflos sein eigener Vater war. Nie wieder wollte er ihn so sehen. Nie wieder wollte er ihn daran erinnern, dass er seinen Sohn weder hatte wirklich beschützen noch wirklich bestrafen können. Er musste das vergessen.“
Man könnte Fatma Aydemir vorwerfen, dass sie ihren Personen zu viele Probleme aufpackt und sie damit zu Demonstrationsobjekten macht, doch ihr genauer Blick auf die jeweiligen Konstellationen innerhalb der Familie und die große Nähe, die ihre Sprache ermöglicht, wiegen diese Überfrachtung auf. Dass die Familie Yildiz ihre kurdischen Wurzeln negiert oder vergessen hat, ist nur eines der Familiengeheimnisse, die die Autorin in ihrem Roman eingewoben hat. Dass es ein paar zu viele sind, macht den Roman zwar weniger glaubwürdig, doch seiner Kraft und Anschaulichkeit tut es keinen Abbruch.
Schweigen in der Familie
Keine der Geschichten wäre verzichtbar, denn sie erzählen sehr berührend von den Räumen, die durch das Schweigen in den Familien entstehen und die einzelnen Menschen bedrängen und verändern. Familien, die schon viel länger in Deutschland leben, können das durchaus ähnlich erleben, und das macht den Roman anschlussfähig an viele aktuelle Debatten, über Vertreibung, Flucht, Heimatverlust, Traumatisierung. Doch die Autorin bringt vor allem zur Sprache, wie eine Familie mit kurdischen Wurzeln überlebt und woran ihre Mitglieder scheitern oder auch wachsen. Nicht nur angesichts der rassistischen Morde an Mitbürgern ist gerade die Besonderheit dieser Erfahrungen wichtig und kostbar.
(Lore Kleinert)
Fatma Aydemir, *1986 in Karlsruhe, Kolumnistin und Redakteurin der taz, lebt in Berlin
Fatma Aydemir „Dschinns“
Roman, Hanser Verlag 2022, 368 Seiten, 24 Euro
eBook 17,90 Euro, Hörbuch 15,99 Euro