Amos Oz
Judas
Ein verzweifelter junger Student will Jerusalem verlassen, wird jedoch durch eine Anzeige ins Haus eines alten, gehbehinderten Mannes und seiner Schwiegertochter Atalja geführt, der einen Gesprächspartner und Helfer sucht.
Nackte Seele
Schmuel Asch, von seiner Freundin verlassen, seiner Examensarbeit über Jesus in den Augen der Juden und seines sozialistischen Arbeitskreises überdrüssig und durch den Konkurs seines Vaters mittellos, ist zwar ungestüm und noch unfähig zuzuhören, doch mit Gerschom Wald redet er, Nacht für Nacht, und er hat etwas an sich, das den hochgebildeten und streitbaren alten Zionisten mit den weißen Einsteinhaaren anrührt:
"Das Äußere eines Höhlenmenschen mit einer nackten Seele, wie eine Armbanduhr, von der jemand das Ziffernglas entfernt hat."
Bis alles verschwimmt
Ziel des jungen, von Asthma geplagten Mannes ist es, wiedergeboren zu werden, in dieser neuen, mönchischen Existenz all seine Fehler abzulegen, seine Fahrigkeit und Geschwätzigkeit und Ungeduld, denen er die Schuld an seinem Versagen gibt. Amos Oz nimmt seine Perspektive ein, ohne sie auf den Horizont eines 20jährigen zu verengen:
"Ich fange an, etwas zu erzählen, und dann tauchen blitzschnell andere Geschichten auf und beherrschen die vorhergehende, und auch die anderen Geschichten versinken in den Vorgängern, es ist, als würde jedes Detail das vorherige erklären, bis alles ganz verschwimmt."
Vom Schicksal Israels
Die Wandlung, von der der Roman auch erzählt, geschieht auf eine Weise, die den ganzen Resonanzraum der Geschichte ebenso einbezieht wie die Wirkung der drei Menschen aufeinander. Im Gespräch mit Gerschom Wald erschließt sich nicht nur die Welt der Naturwissenschaften und der Dichtung, sondern die so unterschiedlichen Männer streiten über das Schicksal des jungen Staates Israel in der Perspektive dieses Winters 1959/60, fast zwölf Jahre nach seiner Gründung. Unsichtbarer Mitstreiter: der Vater von Atalja, der in Gerschom Walds Haus gewohnt hatte, nachdem dessen Sohn, ihr Ehemann Micha, bei der Verteidigung Jerusalems getötet wurde.
Unlösbarer Konflikt
Shealtiel Abrabanel war ein politischer Mensch, der zur Staatsgründung eine andere Position einnahm, gute Beziehungen zur arabischen Welt hatte und aus dem Gedächtnis verschwand, - ein Judas in den Augen seiner früheren Gefährten.
"Ataljas Vater hat geglaubt, Juden und Araber wären dazu geschaffen, einander zu lieben, würde man nur das Missverständnis zwischen ihnen beseitigen“,
doch Gerschom Wald ist überzeugt, dass es gar kein Missverständnis gibt:
“Die einheimischen Araber hängen an diesem Land, weil es ihr einziges ist, sie haben kein anderes, und wir hängen an diesem Land aus genau den gleichen Gründen. Sie wissen, dass wir nie darauf verzichten können, und wir wissen, dass sie nie verzichten werden. Das gegenseitige Verstehen ist also völlig klar" – und zementierte einen Konflikt, der nicht auflösbar ist.
Mit klugem Abstand
Die Fragen, um die es in den Gesprächen immer wieder geht, kreisen grundsätzlich um Verrat und politische Notwendigkeit, und sie zwingen den jungen Schmuel Asch, sich den eigenen Ungereimtheiten zu stellen und auch die Konstellation von Jesus und Judas, eine Geschichte um Verrat und Liebe neu zu überdenken.
Amos Oz, 1939 in Jerusalem geboren, hat sich mit diesen Fragen lebenslang auseinandergesetzt und spitzt sie in dieser Konstellation im Schutzraum eines alten Hauses zu, mit dem gnädigen und dennoch scharfen Blick des Überlebenden und dem klugen Abstand des großen Schriftstellers, der weiß, welche Grenzen aller Parteilichkeit gesetzt sind.
Ewige Kälte
Das Geheimnis und die Wut von Atalja Abrabanel zieht Schmuel Asch in den Bann und helfen ihm, seine Verletzbarkeit anders zu erleben, auch wenn sein Weg vom "schwindligen Bären, den man aus seinem Winterschlaf gerissen hatte", zum Neuanfang schwer und mit Stolpersteinen gepflastert ist.
"Plötzlich zog sich sein Herz zusammen, als er an Atalja dachte, daran, wie verwaist sie war, wie einsam, an die ewige Kälte, die sie umgab, an den Mann, den sie geliebt hatte, der wie ein Lamm am Berghang geschlachtet worden war, allein in der Nacht, an das Kind, das sie nie haben würde, daran, dass er sie nicht lebendig machen konnte."
Großartig erzählt
Und auch hier ist es das Gespräch, das die Menschen einander nahe bringt und Zuneigung wachsen lässt, über den toten Ehemann, den Vater, den Schmerz, der nicht vergehen will. Ein Gespräch mit Worten und in der Sprache der Körper in einer uralten, verwundeten Stadt, großartig erzählt und getragen von der Faszination des Schriftstellers Amos Oz darüber, dass "der Mensch in der Lage ist, sich immer wieder selbst zu überraschen" (Interview Literarische Welt 7.3.2015)
(Lore Kleinert)
Amos Oz *1939 in Jerusalem, Professor für Literatur und Mitbegründer der Friedensbewegung Schalom
Amos Oz "Judas"
übersetzt aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Suhrkamp Verlag 2015, 225 Seiten, 22.95 Euro
eBook 19,99 Euro, MP3 CD 19,99 Euro