Anna Enquist
Streichquartett
Anna Enquist ist eine Meisterin in der Auslotung menschlicher Charaktere. Als ehemalige Psychoanalytikerin deckt sie seelische Beschädigungen auf, analysiert Verletzung und Schmerz und lässt ihre Figuren in einem emotional spannungsreichen Beziehungsnetz agieren.
Im Trauma erstarrt
Als ausgebildete Konzertpianistin gibt sie häufig der Musik eine tragende Rolle, so auch in ihrem neuen Roman. Hugo spielt Geige, er leitet inzwischen ziemlich lustlos das örtliche Musikzentrum, das in die roten Zahlen geraten ist, und lebt mit seiner kleinen Tochter auf einem Hausboot. Jochem spielt Bratsche, er geht in seiner Tätigkeit als Geigenbauer auf und seine Frau Carolien, die Cellistin, kämpft sich zurück in den ärztlichen Beruf. Beide werden mit dem Verlust ihrer Söhne, die bei einem Unfall ums Leben kamen, nicht fertig und erstarren im Trauma.
Allein gelassen
Heleen, die Geigerin, sucht soziale Bestätigung im Briefwechsel mit einem Häftling und beklagt das unsoziale Gesundheitssystem, vor allem die Behandlung alter Leute, die zunehmend ins Heim abgeschoben werden. Genau das bedrückt Caroliens alten Cellolehrer, ehemals ein erfolgreicher Musiker und nun krank, allein gelassen und so gebrechlich, dass er seinen Alltag kaum noch bewältigen kann. Er hat panische Angst, "abgeholt" und ins Heim gesteckt zu werden. In seiner Person konzentriert Anna Enquist deutliche Kritik an der Sozialpolitik ihres Landes.
"Man muss selbst gut aufpassen und die Gefahren wachsam umgehen. Am besten weist man allen die Tür und lässt niemanden herein … Jenseits der Wände erheben sich die Gefahren, doch hier drinnen ist Luft und Stille". Und während er die Partitur von Mozarts Dissonanzenquartett liest "macht er Musik, die niemand hören kann."
Sehnsucht nach Harmonie
Beim gemeinsamen Musizieren verlieren sich Frustrationen und Ängste des Alltags, die Musik ist Heil- und Beruhigungsmittel, schafft kurzfristig innere Ruhe.
"Es ist ein Ausdruck dafür, dass wir Spaß haben, wir spielen ein Spiel, wie Kinder es tun, die vorübergehend an eine selbsterfundene Welt glauben. Vielleicht ist es auch ein Ventil, um Spannung abzulassen..." Aber nach dem Eintauchen in die Werke von Bach oder Mozart, nach dem Erlebnis gemeinsamer Verzauberung kehrt die bittere Realität umso schmerzhafter zurück.
Tatort Hausboot
Ihr Schicksal treibt auf einen unerwarteten Höhepunkt zu, der frühzeitig zu ahnen ist und dann doch unerwartet schockierend über das Quartett hereinbricht. Das Hausboot wird zum Tatort eines Überfalls, der Roman zum Schauplatz unterschiedlicher psychischer Prozesse, die Menschen in einer Extremsituation durchmachen. Faszinierend genau und einfühlsam beschreibt Anna Enquist, die selbst ihre Tochter bei einem Unfall verlor, die Sehnsucht nach einer heilen Seele und die inneren Qualen ihrer Protagonisten. Ein spannendes und berührendes Psychogramm.
(Christiane Schwalbe)
Anna Enquist *1945 in Amsterdam, Psychoanalytikerin und eine der zur Zeit wichtigsten niederländischen Autoren
Anna Enquist "Streichquartett"
Roman, Luchterhand Literaturverlag 2015, 288 Seiten, 19.99 Euro
eBook 15.99
Weiterer Buchtipp zu Anna Enquist
Denn es will Abend werden