Eshkol Nevo
Die einsamen Liebenden
"Lost Solos" sind Vögel, die weitab von ihrer Flugroute in einem Teil der Welt auftauchen, in den sie nicht gehören - ein treffendes Bild für Menschen, die ihren inneren Kompass verloren haben. Genau sie verstrickt Eshkol Nevo in seinem Roman in Liebesgeschichten.
Wechselnde Identitäten
Ein reicher Amerikaner stiftet zu Ehren seiner verstorbenen Frau eine Mikwe, ein rituelles Tauchbad, und der Bürgermeister beauftragt seine rechte Hand Moshe Ben-Tzuk, sie einzurichten. Der unzufriedene und resignierte Ben-Tzuk trauert seiner Jugendliebe Ayelet aus dem Kibbuz nach, und Ayelet, fromm geworden und verheiratet wie er, kommt nach sieben Jahren im Ausland zurück und begegnet ihm beim Bau der Mikwe:
"Und siehe, wieder ist er süchtig nach ihr, nie im Leben würde er diese reinen Stunden mit ihr aufs Spiel setzen, dieses Gefühl, zugehörig zu sein, das er nur bei ihr hat, denn sie kennt den echten Kern des Externen, der unter seinen wechselnden Identitäten verborgen ist, unter den Schichten seiner Kleider."
Vom Warten der Immigranten
Externe gehörten im Kibbuz nie wirklich dazu, und mit den eingewanderten Russen in Israel ist es ähnlich. 'Sibirien' nennt der Bürgermeister eine entlegene Ansiedlung russischer Neuankömmlinge; dort soll die koschere Mikwe feierlich eröffnet werden, wenn der Stifter anreist. Die überwiegend betagten Russen allerdings warten sehnlichst auf ein Kulturhaus und wollen das Bad für alles andere als fromme Zwecke nutzen. Ben-Tzuk heuert den Palästinenser Naim als Baumeister an, doch der passionierte Vogelbeobachter und selbst einer der 'Lost Solos' wird zunächst vom nahegelegen Militär als Spion verhaftet. Gerade er wird sich befreien und mit seiner neuen Liebe das Land verlassen, gegen den Willen seiner Eltern.
"Jeder, der versucht, hier Frieden zu machen, wird umgebracht. Auf diesem Land liegt ein Fluch, begreift ihr das nicht? Bald kommen auch die Vögel hier nicht mehr vorbei … Ihr klammert euch an den Boden. An die Olivenbäume. Und ihr wartet. Wie kann man sein ganzes Leben mit Warten zubringen?"
Modernes Märchen
Der Autor verknüpft die unterschiedlichsten Aspekte israelischen Lebens und verbindet die Blickwinkel von russischen Immigranten, Politikern, Religiösen, Palästinensern und Soldaten in weit ausgreifenden, eleganten Bögen. Verlorene und ersehnte Liebe, aufkeimend oder erfüllt, sie ist der rote Faden im Flickenteppich der Schicksale von Menschen, die füreinander zum "richtigen Ort" werden könnten. Und in und um die gar nicht so koschere Mikwe lässt der Autor ironisch die widersprüchlichen Begehrlichkeiten aufeinanderprallen:
"Der Ort stand ganz und gar ihnen und ihren Trieben zur Verfügung, ohne Überwachung, vier Tage und Nächte lang. Was sich in diesen vier Tagen und vier Nächten dort abspielte, hätte man mit Fug und Recht als „Sodom und Gomorrha“ bezeichnen können. Man hätte aber auch sagen können, alle Bewohner Sibiriens kamen aus dem Rentenalter direkt in den Himmel, ohne vorher sterben zu müssen."
Ein modernes Märchen, das die 'heiligen Orte' als Chance erotischer Erfüllung feiert und einen liebevollen, kritischen Blick auf ein Land mit vielen Widersprüchen wirft.
(Lore Kleinert)
Eshkol Nevo *1971 in Jerusalem, Psychologe und israelischer Schriftsteller
Eshkol Nevo "Die einsamen Liebenden"
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Roman. dtv premium, 304 Seiten, 16,90 Euro
eBook 14,99 Euro