Zeruya Shalev
Schmerz
Sie ist eine Meisterin in der Auslotung psychologischer (Un)tiefen von Familie und Beziehung - was Ehepartner, Kinder und Eltern zusammenhält oder trennt, das sogenannte "Normale", das seziert die israelische Autorin Zeruya Shalev mit gnadenloser Genauigkeit aus der weiblichen Perspektive. In ihren Figuren spiegeln sich stets auch die gesellschaftlichen und politischen Brüche ihres Landes.
Durchgeplantes Leben
Der Schmerz im gleichnamigen neuen Roman von Zeruya Shalev brennt doppelt: Ich-Erzählerin Iris wurde vor elf Jahren Opfer eines Terroranschlags (wie auch die Autorin). Die Bombe eines Selbstmordattentäters sprengte einen Bus in die Luft, in genau diesem Moment fuhr Iris vorbei. Sie überlebt mit zerschmetterten Knochen, muss mehrere Operationen und Krankenhausaufenthalte über sich ergehen lassen. Die Langzeitfolgen überfallen sie bis heute mit Schmerzattacken, reißen sie heraus aus einem (scheinbar) perfekt durchgeplanten Leben.
Seelenschmerz
Iris ist eine Karrierefrau, Direktorin einer Schule, die sie dank ihrer Zähigkeit und Konsequenz zu einem anerkannten Institut gemacht hat. Ihr Mann Micki, ein Informatiker, liebt Computerschach und seinen Beruf, die Ehe dümpelt dahin, die beiden Kinder werden gerade flügge. Es geht dieser Familie gut – aber wirklich glücklich ist niemand.
Der andere Schmerz sitzt in der Seele. Als Kind verliert Iris ihren Vater im Krieg und mit 17 wird sie von Eitan, ihrer ersten großen Liebe, verlassen, tagelang liegt sie apathisch im Bett, das Leben ist sinnlos geworden ohne ihn. Diesem über alles geliebten Mann begegnet sie, inzwischen Mitte 40, zufällig wieder – in seiner Praxis, er ist Arzt.
Verpasstes Glück
Die Leidenschaft flammt wieder auf, er wird erneut ihr Liebhaber und sie ist besessen davon, dass der begehrte Mann ihr verpasstes Glück endlich vollenden soll. "Schmerz" nennt sie ihn im Smartphone. Ein Schmerz, der - im Sinne des Wortes - nicht aufhört, sich zu melden, auch dann nicht, als sie eine Entscheidung getroffen hat. Eine Entscheidung für die Familie und für ihre Tochter Alma, die in Tel Aviv in einem Restaurant kellnert und einem spirituellen Guru in die Hände gefallen ist, der sie eiskalt manipuliert.
Gegen jede Vernunft
Und so wie Alma besessen ist von dem Gedanken, ihr wahres Ego zu finden, so ist Iris besessen von dem Wunsch, bedingungslos von Eitan geliebt zu werden. Der Schmerz – sowohl der körperliche als auch der seelische – wird zur lebensbestimmenden Obsession, die sie jagt und Dinge tun lässt, die jeder Vernunft widersprechen. Sie treibt in ein Gefühlschaos, handelt zwanghaft und unüberlegt, pendelt zwischen Angst, Schuld und Verantwortung und findet in der Krise Trost in biblischen Bildern.
Quälend genau
Das ist geschrieben in dem außergewöhnlichen und manchmal quälend genauen Stil der Zeruya Shalev: Ihre Sätze sind lang und atemlos, sie erzählt assoziativ und detailversessen, ein Gedanke rankt sich in den nächsten, die Folgen der neurotischen Verhaltensweisen und irrationalen Handlungen ihrer Protagonistin lesen sich manchmal nahezu unerträglich. Aber gerade das macht diesen von Mirjam Pressler aus dem Hebräischen großartig übersetzten Roman so faszinierend.
(Christiane Schwalbe)
Zeruya Shalev *1959 in einem Kibbuz am See Genezareth, israelische Schriftstellerin und Bibelwissenschaftlerin, lebt in Jerusalem
Zeruya Shalev "Schmerz"
Übersetzt aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Berlin Verlag 2015, 368 Seiten, 24,00 Euro
eBook 19,99 Euro, AudioCD 24,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Zeruya Shalev
"Schicksal"