Zeruya Shalev
Schicksal
Es steht in der Abendzeitung: Beim Attentat auf einen Bus in Jerusalem kommt eine junge Frau ums Leben, die am Abend zuvor ihren 20. Geburtstag gefeiert hatte. Meno, Untergrundkämpfer bei der paramilitärischen, zionistischen Lechi-Bewegung, hat sie zufällig kennengelernt.
Am Ende des Lebens
Er brachte ihr einen falsch zugestellten und für sie bestimmten Brief, der sie zur kranken Mutter rief. Und sie stieg in diesen Bus. Ihr Name steht in der Zeitung, Atara. Eine Verkettung unseliger Zufälle, an der Meno fast verzweifelt. Erdrückt von Schuldgefühlen verläßt er Rachel, seine Frau, ebenfalls eine militante Lechi-Kämpferin gegen die britische Besatzung:
„Es ist unerträglich und ganz unfassbar: Da flattert ein einsames, verstümmeltes Stückchen Leben jahrelang herum und landet plötzlich auf der Schwelle deines Hauses und zwingt dich ausgerechnet jetzt, am Ende deines Lebens, zu den Anfängen zurückzukehren, denen keinerlei Fortsetzung beschert war.”
Das sagt Rachel 70 Jahre später, da ist sie 90 und hat eine andere Atara getroffen - Meno hat wieder geheiratet und seiner Tochter diesen Namen gegeben. Sie will sich treffen mit ihr, um mehr über den Vater zu erfahren, einen bekannten Wissenschaftler, der mit 91 Jahren gestorben ist, vor seinem Tod immer wieder nach Rachel, seiner ersten Frau, gerufen hat:
"Er hatte ihr am Ende seines Lebens einige wenige Dinge gesagt, die ihr seitdem keine Ruhe lassen und darauf drängen, geklärt zu werden, und es gibt auf der Welt nur eine Frau, die das für sie tun kann.”
Belastende Kindheit
Rachel hat Angst vor der Begegnung mit der Tochter ihres ersten Mannes, die von dieser Ehe nichts gewußt hat, auch nicht, warum sie Atara heißt. Darüber schwieg der Vater, der sie misshandelte und beschimpfte, ihr bei seinen regelmäßigen Wutanfällen die Haare ausriß, er war unnahbar und lieblos. Ihre Schwester sagt boshaft:
„Vielleicht bist du überhaupt ein Stiefkind ... Du siehst ja auch ganz anders aus. Wenn du wie Mama und ich aussehen würdest, hätte er dich vielleicht lieber.”
Die Mutter mischte sich nicht ein – eine belastende Kindheit. Atara flüchtet sich schnell in den Schutz einer Ehe, bekommt eine Tochter, verliebt sich erneut, heiratet ein zweites Mal, ihre kleine Tochter ist gerade mal fünf. Auch Rachel hat ein zweites Mal geheiratet und zwei Söhne bekommen. Sie lebt in einer Siedlung am Rande der Wüste. Ihrem ultraorthodoxen Jüngsten gesteht sie auf dem Weg zur jener gerade verwitweten Atara endlich ihr jahrzehntelang gehütetes Geheimnis:
„Es ist die Geschichte von einem jungen Mann und einer jungen Frau, deren Seelen sich in ihrer Jugend miteinander verbanden, und obwohl das in den Zeiten des Krieges war und beide aktive Kämpfer waren, beschlossen sie, in den Bund der Ehe zu treten, um ihre Liebe in der Welt zu manifestieren, in einer Zeit, die ihr keinen anderen Ausdruck ermöglichte. Doch das Schicksal wollte, dass ihr Bund schon nach nur einem Jahr gebrochen wurde, und so ging jeder seines Wegs, heiratete jemand anderen, gründete eine Familie und bekam Kinder, und jetzt fahren wir nach Haifa zur Schiv'a der Tochter dieses Mannes, denn ihr Ehemann ist gestorben.”
Schuld und Verantwortung
Zeruya Shalev geht es um Schuld und Verantwortung – in Beziehungen, Familien, aber auch dem Staat Israel gegenüber. Rachel war in den 1940er Jahren aktiv, schob Kinderwagen mit Puppen mit Bomben im Bauch durch die Straßen und zündete sie. Bis ins hohe Alter erinnert sie sich an die Namen der Kämpfer, die bei solchen Terrorakten gestorben sind.
„Man muss der Erinnerung ein Gesicht und einen Körper geben. Erst dann werden die Leute vielleicht verstehen, wie teuer dieses Land erworben wurde, und achten es dann auch.”
Shalev analysiert mit schmerzhaft genauem Blick die Psyche ihrer Protagonist:innen, ihre Wut und ihre Angst, vielleicht das falsche Leben gelebt und andere Menschen unnötig verletzt zu haben. Sie seziert die prägenden Kindheitsmuster, die sie ein Leben lang mit sich herumschleppen und die unweigerlich Beziehung und Mutterschaft prägten, das alltägliche Gezänk in der Ehe, das Unverständnis für einen Sohn, der seine Militärzeit in einer Eliteeinheit gemacht hat und hinterher kaum noch ansprechbar ist, die Liebe Ataras zu ihrer Tochter, die Schuldgefühle ihr gegenüber. Als ihr Mann völlig unerwartet stirbt, bricht sie physisch und psychisch fast zusammen, möchte die Scharen von Menschen, die zur Trauerwoche Schiv'a kommen, um ihr Beileid zu bekunden, am liebsten vertreiben - und plötzlich steht Rachel vor der Tür, die vom Tod ihres Mannes in der Zeitung gelesen hat.
Gespenster der Vergangenheit
Es gibt viele Parallelen zwischen den ungleichen Frauen – ihre Ehen, ihre Schuldgefühle, die Gespenster der Vergangenheit, die Suche nach Wahrheit und Liebe, die schwierige Beziehung zu ihren Kindern, ihre fast manische Innenschau. Shalev erzählt abwechselnd aus den Perspektiven der beiden, enthüllt Stück für Stück ihre Lebensgeschichten und die tiefe Bedeutung ihrer Begegnung. Ihr gelingt eine subtile, ungemein fesselnde Verknüpfung beider Schicksale. Und auch in diesem Roman spiegeln ihre Figuren die gesellschaftlichen und politischen Brüche ihres Landes, die Folgen radikaler politischer Überzeugungen ebenso wie die strenger Religiosität. Ein intensiver und berührender Roman.
(Christiane Schwalbe)
1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, Bibelwissenschaftlerin, vielfach ausgezeichnete Autorin, lebt in Haifa
Zeruya Shalev „Schicksal"
aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Roman, Berlin Verlag 2021, 416 Seiten, 24 Euro
eBook 19,99 Euro, AudioCD 16,19 Euro
Weiterer Buchtipp zu Zeruya Shalev
"Schmerz"