Péter Gárdos
Fieber am Morgen
Hundertsiebzehn Briefe an hundertsiebzehn junge Frauen schreibt Miklós, doch ein Don Juan ist er nicht. Er will heiraten, unbedingt. Der fünfundzwanzigjährige Ungar ist aus dem KZ Bergen-Belsen gerettet worden, schwer lungenkrank, und soll im schwedischen Ausländerlager zu Kräften kommen.
Zart und poetisch
Lili, eine der hundertsiebzehn Ungarinnen aus seiner Heimatstadt, die wie er in schwedischen Krankenhäusern landeten, antwortet ihm, und eine Liebesgeschichte in Briefen beginnt. "So habe ich dich mir immer vorgestellt. Immer. In meinen Träumen. Grüß dich, Lili."
Der preisgekrönte ungarische Regisseur Péter Gárdos hat aus diesem Briefwechsel seiner Eltern einen zarten, poetischen Roman gemacht. "Es gibt keine andere – entweder sie, oder ich sterbe" - Miklós, sein Vater, meint das todernst, denn seine Ärzte glauben, länger als ein halbes Jahr könne er nicht überleben.
Berührend
Schlechte Vorzeichen für die Liebe, doch wie beide mit Hilfe ihrer Freunde die strengen Regeln der Krankenlager umgehen, wie aus dem nackten Überleben erst Hoffnung und dann eine Zukunft wird, erzählt Gárdos schlicht und sehr berührend. Tagelange Zugfahrten müssen bewältigt werden, damit sich die beiden kurz besuchen können, und die Gepflogenheiten im schwedischen Asylland erinnern, bei allen Unterschieden, auch an aktuelle Herausforderungen:
"Diese Schweden gehen mir langsam auf die Nerven. Am liebsten wäre es ihnen, wenn wir Tag und Nacht Lobeshymnen über ihre Güte singen würden…Ich habe so ein unsägliches Heimweh!"
Kleine Widrigkeiten
Als einer seiner Kameraden erfährt, dass seine totgeglaubte Frau lebt, bricht großer Jubel aus, doch es stellt sich heraus, dass sie doch erschossen wurde, und Tibor Hirsch erhängt sich – für den Vater des Autors bedeutet es fast das Ende, denn er verirrt sich im Wald und will aufgeben. Wäre da nicht Lili, mit der er sich über die großen Katastrophen und kleinen Widrigkeiten austauschen kann, über die Achterbahn der Gefühle, denen alle Überlebenden ständig ausgesetzt sind. Die Asylantenlager etwa erinnern allzu oft an die Todeslager, aus denen die Menschen nach Schweden kamen:
"Wie ist es? Beschreibe es mir… Holzbaracken, holprige Wege, einfach furchtbar…Gestern Nacht konnte ich vor Kälte kaum schlafen… In den Baracken gibt es nichts, wo wir uns hinsetzen könnten! Keinen Stuhl, keinen Tisch! Wir irren den ganzen Tag nur wie streunende Hunde auf der Lagerstraße herum."
Literarische Kostbarkeit
Welche Hindernisse sich der geplanten Heirat in den Weg stellen, beschreibt Péter Gárdos mit Feingefühl und Humor; er hat seinen Vater in diesen Briefen, die ihm seine Mutter erst lange nach dessen Tod anvertraute, anders und neu kennengelernt, als poetischen Träumer und als einfallsreichen und zähen Kämpfer, auch gegen seine Krankheit und den Pessimismus der Ärzte. Gedichte schrieb er später, im kommunistischen Ungarn, nicht mehr, und auch den geplanten Roman über seine Erlebnisse gibt es nicht – nur die Briefe, ordentlich mit einem blauen und einem roten Band verschnürt, wurden sorgsam gehütet, für den Sohn. Seine Eltern haben über ihre Erlebnisse später niemals wieder gesprochen, doch dieser Roman ist ein hinreißendes Zeugnis ihres Lebenswillens und eine literarische Kostbarkeit.
(Lore Kleinert)
Péter Gárdos * 1948 in Budapest, Film- und Theaterregisseur
Péter Gárdos "Fieber am Morgen"
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó
Roman, Hoffmann und Campe 2015, 256 Seiten, 22,00 Euro
eBook 16,99 Euro, AudioCD 19,99 Euro