Anthony McCarten
Going Zero
Wenn sich der CIA mit einem Silicon Valley-Startup zusammentut, soll es um die Verfeinerung von Überwachungssoftware gehen; bevor der Gründer Cy Baxter jedoch an die Staatsmillionen für seine Firma herankommt, muss er beweisen, wie effektiv sein Programm FUSION arbeitet.
Skrupelloses System
Das beginnt spielerisch: zehn ganz normale Menschen sollen für 30 Tage untertauchen, auf Null gehen und aller Überwachung entkommen. Wem es gelingt, dem winken drei Millionen Dollar, aber Baxter ist überzeugt, dass sein System alle aufspürt – und dass er siegt. Dass dabei jede Grenze überschritten werden kann, ist eingeplant, - mit allen wohlbekannten Rechtfertigungen:
„Aber so sehr dies alles auch eine Grenze überschreiten, in verbotene Sphären eindringen mag, er weiß doch – weiß – das das größere Gute, das Anständige dessen, was sie hier tun, alles andere aufwiegt. Ginge es sanfter zu in der Welt, dann wäre ihr Tun vielleicht falsch. Doch die Welt wird von Tag zu Tag unsanfter…“
Anthony McCarten, vierfach oscarnominierter Drehbuchautor und Schriftsteller, sorgt für Hochspannung, indem er zeigt, wie die einzelnen Mitspieler aufgespürt werden, wie skrupellos das System Baxters arbeitet, und wie er, wie alle Weltverbesserer mit Größenwahn, jeden seiner Schritte rechtfertigt:
„Leute unter Beobachtung, da ist er überzeugt, benehmen sich einfach besser, sie wissen, dass es bei jeder Grenzüberschreitung eine rasche Antwort gibt. Heißt das Polizeistaat, schwarze Faschistenträume? Aber nein, natürlich nicht. So etwas lehnt er ab. Einfach eine Welt, die fairer ist, eine in der die Verlockung, Böses zu tun, mit einem Mal um vieles geringer geworden ist.“
Doch einer der Menschen unter den Wettbewerbern schafft es, sich Tag um Tag dem Zugriff zu entziehen, obwohl man sie für ein leichtes Opfer hielt: die Bibliothekarin Kaitlyn Day erscheint zunächst als harmlos, doch allmählich zeigt sich, dass sie mit der Challenge eigene Absichten verfolgt. Die entscheidende Herausforderung für Cy,
„die Kluft (zu) überwinden, die zwischen dem Kalkulierbaren und dem Unerklärlichen bleibt, zwischen der Maschine und der unsteten, erratischen, von Leidenschaften getriebenen Seele des Menschen“,
versetzt den coolen und arroganten Firmengründer in Panik.
Kein Platz für Spaß
Aufregend und elegant verbindet McCarten die Erfahrungen von Flucht vor den scheinbar allmächtigen Algorithmen, von Selbstüberschätzung eines Einzelnen und vom politischen Kalkül der CIA-Mitarbeiter in einem Thriller, den man kaum aus der Hand legen mag. Dabei macht er nicht den Fehler, Cy Baxter als Monster darzustellen, sondern zeichnet ihn als überambitionierten Selbstdarsteller, in dem man unschwer jemanden wie Elon Musk o.ä. erkennen kann.
„Letzten Endes dreht sich alles um Kontrolle. Ja, er wird nervös, sobald er die nicht hat. Wie kann man sicherstellen, dass man nie die Kontrolle verliert? Indem man hervorragende Arbeit leistet und zu einer Führungsposition aufsteigt, von der aus man die Welt so einrichten kann, wie man es für richtig hält.“
Die erwünschten Partner, die Profis auf Staatsseite, betrachten die Jungs aus dem Silicon Valley mit leisem Misstrauen, das verleiht dem Thriller sogar eine gewisse Komik und vor allem Plausibilität. Das Freizeitparkgehabe der jugendlichen Nerds im Hauptquartier von FUSION geht ihnen immer mehr auf die Nerven:
„Spaß? Wenn man sich einer Krise von ukrainischen Ausmaßen gegenübersieht, wenn die Welt an einem einzigen Vormittag vom Frieden zu Alarmstufe Rot wechselt, wenn am Himmel über einem solchen Land die schwerbeladenen Bomber auftauchen…dann ist da kein Platz für Mickymaus-Shirts, High Fives, für Schüsseln mit Süßigkeiten und Flipperkästen im Foyer, für ‚Spaß‘.“
Ohne jede Moral
Dennoch wären sie bereit, jegliche demokratischen Rechte dem privaten Überwachungskapitalismus zu opfern – wenn er denn nur effektiv genug ist. Das aber steht infrage, und bei aller Sympathie für den Kampf der unterschätzten jungen Frau fragt man sich, wie weit der Aufbau landesweiter Kontrollsysteme gediehen ist, die in Diktaturen wie China oder Russland längst angewendet werden. Und als wie haltbar demokratische Regeln sich erweisen werden. Oder lässt sich durchsetzen, dass man
„ohne jede Moral den Leuten irgendwelche Informationen unterjubelt, vieles davon gezielte Desinformationen, die unsere gemeinsame Realität zerstören, den gesellschaftlichen Diskurs vergiften und unsere demokratischen Prozesse lahmlegen“?
McCarten ist davon überzeugt, dass ein Einzelner mit genügend Macht über die zerstörerischsten Kräfte auf dem Planeten diese auch irgendwann einsetzen wird, und sein Roman spielt mit der Fehlbarkeit dieser scheinbar so reichen und selbstgewissen, mächtigen Einzelnen. Die Frage, wie sehr sie dennoch für staatliches Handeln nutzbar gemacht werden, beantwortet er mit Pessimismus für die Freiheit.
(Lore Kleinert)
Anthony McCarten, *1961 in Neuseeland, Autor von Romanen, Drehbüchern und Theaterstücken, lebt in London
Anthony McCarten "Going Zero"
aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Roman, Diogenes Verlag 2023, 464 Seiten, 25 Euro
eBook 21,99 Euro