Arnon Grünberg
Muttermale
Am Ende landen die Muttermale - kleine Knubbel am Rücken, chirurgisch entfernt und gutartig – in einem kleinen Döschen. Der Psychiater Kadoke, der sich zehn bis 15 Mal pro Tag eine Zigarette gönnt, manchmal auch öfter, schenkt es der neuen Pflegerin seiner Mutter.
Suche nach Halt
"In Kadokes Beruf weiß man, was sich erreichen lässt: Man stabilisiert, mehr ist häufig nicht drin. Und selbst das gelingt nicht immer."
Bei seiner Klientin Michette gelingt es nicht wirklich, und weil sie ihn nicht in Ruhe lässt, missbraucht er seinen Beruf: Sie soll die Pflege seiner greisen Mutter übernehmen. Michette hat sich ihm aufgedrängt, spielt mit ihren Selbstmordabsichten und sucht Halt. Seine Mutter betreut er selbst, seit ihn die Begierde zur nepalesischen Pflegerin übermannt hat. Daraufhin verprügelt ihn der den traditionellen Familienvorstellungen verhaftete Bruder, und Kadoke muss selbst für das Wohlbefinden der Mutter sorgen. Der Sohn, allein, kinderlos, zieht wieder zu ihr.
Mutters Rockzipfel
Eine ziemlich ver-rückte Geschichte, typisch für Grünberg, der nie nur auf einer Ebene erzählt, sondern den Leser auf Seiten- und Nebengleise führt, ihn verwirrt, schockiert, verblüfft und in die Ruhelosigkeit seines Protagonisten schickt. Der ist in diesem Fall Angestellter des Amsterdamer Krisendienstes, der selbstmordgefährdete Klienten in stationäre Behandlung überweist. Für ihn besteht das Leben aus Helfen – Kranken, seiner Mutter, sich selbst. Möglichst ohne Leidenschaft.
"Wer er wirklich ist, kann er nicht sagen, und soweit ihn das irgendwann interessierte, hat er dieses Interesse seit langem verloren."
Irgendwie ist dieser Mann nicht fähig, ein eigenes Ich zu leben, lieber identifiziert er sich mit anderen, selbstverständlich emotionslos, und hängt darüber hinaus wie ein Kind an Mutters Rockzipfel. Er ist ein Mann ohne Rückgrat, klagt sie. "Und solange Du kein Rückgrat hast, kann ich nicht sterben."
Zwischen Fürsorge und Hass
Aber Mutter ist eigentlich Vater und Vater wird Mutter – der Autor stellt vorhandene Identitäten auf den Kopf und der Mann alltäglicher Krisenintervention verdreht psychoanalytische Theorien, um der Liebe in ihren unterschiedlichen Variationen auf die Spur zu kommen: Sex, Fürsorge, Mitleid, Projektion, Hass. Zwischen all diese Themen schiebt sich ein weiteres: Seine Mutter ist den Konzentrationslagern entkommen, Kadoke ist Jude, aber er schämt sich:
"Nicht der Tod ist beschämend, sondern das Leben. Seine Eltern hätten nicht da sein dürfen, hätten wie Millionen anderer vergast werden müssen … Zum Vergastwerden ist Kadoke zu spät geboren, das ist seine Niederlage. Seiner Meinung nach dürfte er nicht leben … (aber) Solange es Patienten gibt, darf es auch ihn geben."
Immer doppeldeutig
"Muttermale" ist ein Roman, den man nicht wirklich liebt, er schockiert und nervt und doch – er fasziniert. Grünberg lotet geschickt alle Doppeldeutigkeiten und Untergründe menschlichen Daseins aus, spielt mit vorsichtiger Sympathie und gnadenloser Abneigung für seine Figuren, mit Demütigung, Unterwerfung, Hilflosigkeit und Übermacht. Er beschreibt die vertrackten Zusammenhänge von Liebe und Macht und die Schwierigkeit, sich abzunabeln. Und als er es scheinbar endlich geschafft hat und dabei seine Schuldgefühle verdrängt, erkennt er: Liebe bleibt immer ein doppeldeutiges Gefühl.
"Während er die dunklen Häuser der Nachbarn betrachtet, überkommt ihn eine unerhörte, fast beängstigende Sehnsucht, die nicht von Lebenslust zu unterscheiden ist … Dieses Nicht-tot-Sein muss aufhören."
(Christiane Schwalbe)
Arnon Grünberg, *1971 in Amsterdam, Journalist und Schriftsteller mit mehreren niederländischen Literaturpreisen, wohnt in New York, Amsterdam und Berlin
Arnon Grünberg "Muttermale"
"Moedervlekken" aus dem Niederländischen übersetzt von Andrea Kluitmann und Rainer Kersten
Roman, Kiepenheuer & Witsch 2017, 448 Seiten, 24 Euro
eBook 20,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Arnon Grünberg
"Der Mann, der nie krank war"