Carl Nixon
Kerbholz
„Über seine Schulter hinweg sah sie die Welt außerhalb des Autos als albtraumhaftes Kaleidoskop auf sich zustürzen. Ungewollt schoss ihr ein Gebet durch den Kopf. Ein Gebet zu einem Gott, an den sie zuletzt vor vielen Jahren als kleines Mädchen geglaubt hatte.“
Ohne Spuren
Gebete helfen der Familie Chamberlain, die Eltern mit vier Kindern, aus London nicht mehr, nachdem sie auf ihrer Fahrt auf einer Nebenstraße an der menschenleeren neuseeländischen Westküste entlang ins Meer gestürzt sind, am 4. April 1978. Fünf Tage lang erkundeten sie ihre neue Heimat, die einen guten Job für John anbot, dann ist die Familie wie vom Erdboden verschwunden. Die Reifenspuren löscht der Regen, drei der Kinder überleben.
Nach diesem atemberaubenden, fast filmischen Einstieg erfahren wir, wie Julias Schwester Suzanne 32 Jahre später erfährt, dass die Überreste ihres Neffen Maurice, damals 14 Jahre alt, an der Küste gefunden wurden, und er kam erst vier Jahre nach dem Unfall ums Leben. Viermal schon hatte Suzanne nach der Familie gesucht, vergeblich, und sie wird sich ein weiteres Mal auf den Weg machen. Wie hat er überlebt, und warum starb er später? Und wo sind die beiden anderen Kinder?
Überleben durch Anpassung
Carl Nixon wechselt immer wieder zu den überlebenden Geschwistern; Maurice und die zwölfjährige Katherine werden von einem grobschlächtigen Aussteigerpaar, das sich vom Verkauf von Honig und Marihuanaanbau ernährt und in einem verlassenen Tal lebt, als Arbeitskräfte genutzt, und man rechnet stets mit Schlimmerem. Der schwer kopfverletzte jüngere Bruder wird mitverpflegt und stirbt schließlich nach einer Bienenattacke. Das Versprechen, sie zurückzubringen, halten Martha und Peter niemals, sondern lassen die Kinder schuften. Maurice, dessen verletztes Bein ausheilen muss, will unter keinen Umständen zu ihnen gehören, denn er hat die Lüge, sie müssten erst ihre Schulden, auf einem Kerbholz eingeschnitzt, abarbeiten, durchschaut:
„Er würde arbeiten, um einer Bestrafung zu entgehen, darüber hinaus würde er sich auf rein gar nichts einlassen. Er wurde Peters Wasserträger. Und sein Brennholzsammler. Er war der Pfleger für sein großes, sanftmütiges Pferd. Sein Schlachter von Hühnern, Enten, Kaninchen und der Totschläger von weniger nützlichen Tieren.“
Nixons Roman nimmt die Echos von Märchenerzählungen über verlassene Kinder auf, Hänsel und Gretel etwa im tiefen Wald, verzichtet aber auf jegliche Horrorelemente, denn die unterschiedlichen Wege der beiden Geschwister, zu überleben, mit all ihren Ängsten und Sehnsüchten, sich anzupassen oder zu rebellieren, bieten Spannung genug. Der Verlust der Familie, der wohlerzogene, bürgerliche Hintergrund haben sie geprägt, doch wie sie sich entwickeln, ist feinfühlig und ergreifend beobachtet, auf der Folie einer ungezähmten, wunderschönen Naturlandschaft. Überleben kann Anpassung bedeuten, doch ihre Formen sind vielfältig.
Mitten im Nirgendwo
Die nächste Stadt, gar nicht so weit entfernt, bot früher mit ihrer Kohlenmine vielen Menschen Arbeit. In den Tälern mit ihren verlassenen Farmen und Häusern haben sich in den 70er Jahren Menschen eingerichtet, die in Ruhe gelassen werden wollen. Suzanne, deren Ehe über ihre vergebliche Suche in die Brüche ging, rät man auf ihrer letzten Reise, fünf Jahre nach dem Unfall:
„Meistens gibt es einen Grund dafür, warum Menschen sich entscheiden, mitten im Nirgendwo zu leben, ohne Arbeit oder Strom. Und im Allgemeinen ist es nicht, weil sie das Rampenlicht so mögen. An ihrer Stelle wäre ich sehr vorsichtig damit, einfach aus heiterem Himmel aufzukreuzen und jede Menge Fragen zu stellen.“
Vieles müssen die Leserinnen und Leser selbst mit ihrer Phantasie ausfüllen, der Roman führt in viele Nuancen von Bedrohung, Furcht und Gewalt. Doch zugleich gibt es, nicht nur in der beeindruckenden Natur, Freundlichkeit und Schönheit, und „Kerbholz“ hält eine erstaunliche Balance, unterstützt sicher auch durch Nixons Erfahrung als Theaterautor. Ein Spannungsroman mit psychologischem Tiefgang, und sehr zu empfehlen!
(Lore Kleinert)
Carl Nixon, *1967 in Neuseeland, Autor von Romanen, Kurzgeschichten und Dramen, gewann mit seinen Werken zahlreiche Preise,
Carl Nixon „Kerbholz“
aus dem Englischen von Jan Karsten
Roman, culturbooks 2023, 24 Euro
eBook 17,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Carl Nixon
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