Fatima Daas
Die jüngste Tochter
Sie ist Französin algerischer Herkunft, und das ist schon der erste Makel, den Fatima mit sich herumschleppt. Denn ihre zwei Schwestern sind in Algerien geboten, nur sie, die Jüngste, kam in Paris zu Welt.
Schweigen und verschleiern
Die Eltern hatten nicht mit einem weiteren Kind gerechnet, erst recht nicht mit einer Tochter. Wenn überhaupt, dann sollte es ein Junge sein: „Ich bin ein Irrtum, ein Unfall”.
Diese Last trägt Fatima schon früh mit sich herum, spürt, dass sie nicht wirklich willkommen war. Obendrein hat sie schweres Asthma, muss oft ins Krankenhaus, stellt als Jugendliche fest, dass ihre Erstickungsanfälle durch Gefühle ausgelöst werden - Gefühle, die sie nicht haben darf. Die Mutter möchte sie mit Schleifen und Tüll als Mädchen kleiden, aber sie will keine Prinzessin sein. Dennoch erfüllt sie die Erwartungen, die in sie gesetzt werden, beklagt sich nicht, schweigt wie ihre Schwestern, wenn der Vater sie schlägt. Demut ist angesagt und Gehorsam, so wie ihre Mutter es vorlebt, deren Reich die Küche ist. Nichts sagen, verheimlichen, verschleiern – das lernt sie früh. Sie will eine gute Muslimin sein und fühlt sich wohl auf ihrem Gebetsteppich.
Den Namen ehren
In der Schule benimmt sie sich wie ein Junge, seit ihrem 12. Lebensjahr kleidet sie sich auch so, ist ruppig, beschimpft die Mathematiklehrerin, prügelt sich mit Jungs. Ich heiße Fatima oder ich heiße Fatima Daas ... so beginnt jedes Kapitel, stets mit einem Zusatz:
„Ich trage den Namen einer symbolischen Figur des Islam.
Ich trage einen Namen, den man nicht beschmutzen darf, einen Namen den ich ehren muss. ...
Ich bin Asthmatikerin. ...
Als Schülerin bin ich instabil. ...
Ich bin Muslimin, also habe ich Angst. ...
Ich bin durchgeknallt. ...
Einen Namen, den ich entehrt habe. ...
Ich bin eine Sünderin."
Sie fühlt sich als Muslimin und handelt doch gegen die Gebote, denn sie ist lesbisch. Homosexualität ist im Islam verboten. Nach den Regeln ihrer Religion beschmutzt sie ihren Namen, leidet unter Schuldgefühlen und Ängsten, bittet Allah jeden Morgen, sie vor Sünde und Unrecht zu bewahren.
Selbstzweifel und Vorurteile
Sie lebt zwischen den Welten. Algerien bleibt ihr fremd, als sie mit ihrer Familie ihr Heimatdorf besucht. Auch in Paris ist sie Außenseiterin, denn sie wohnt in der berüchtigten Banlieue Clichy-sous-Bois, wo viele Araber leben. Fähigkeiten traut man ihr nicht zu - im spanischen Literaturkurs befragt man sie eindringlich, wer denn ihre Aufgaben gemacht habe. Die Vorurteile treffen sie hart: Muslimin, algerische Herkunft, Banlieue – gute Leistungen werden angezweifelt. Mit 17 geht sie zur Therapie, vier Jahre lang. Und einen Imam besucht sie, um angeblich das Problem einer Freundin zu klären. Sein Rat:
Die halbe Nacht beten, montags und donnerstags fasten. Sagen sie ihr, sie soll Gott um Hilfe bitten, ihn beschwören, Reue zeigen. Das ist ihre Prüfung.”
Fatima Daas erzählt nicht gradlinig, nicht chronologisch, sondernimmer wieder in Rückblenden auf Kindheit und Jugend, sie erzählt vom Anderssein, von ihrer Liebe zu Frauen, von der Geborgenheit in der lesbischen Welt. Sie hat eine außergewöhnliche und eindringliche Form gefunden – rhythmisch in der Sprache, kurz, oft unvollendet, als schreibe sie in Gebeten, in Suren, wie im Koran, um ihre eigenen Regeln zu finden, ihren Platz im Leben. Eine Identitätssuche voller Schamgefühle, Selbsthass und der Verzweiflung, sich nicht entscheiden zu können, auch nicht zu wollen. Ein autobiografischer Roman, der provoziert und wagt, Tabus zu brechen.
(Christiane Schwalbe)
Fatima Daas, *1995 in Frankreich als jüngstes Kind algerischer Eltern. In Frankreich hat das Buch viel Aufsehen erregt, wurde ein Bestseller und ist inzwischen in viele Sprachen übersetzt worden.
Nomininiert für den internationalen Literaturpreis 2021 vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin.
Fatima Daas „Die jüngste Tochter"
aus dem Französischen von Sina de la Malafosse
Roman, Claassen Verlag Berlin 2021, 192 Seiten, 20 Euro
eBook 15,99 Euro