Noa Yedlin
Leute wie wir
„Aber jetzt gehörte sie einer Minderheit an, war nackt und vollkommen durchsichtig; verstand nicht, was passierte, während alle um sie herum es verstanden. Und deshalb bewegte sie sich tastend vorwärts wie eine Blinde: Wer war gut? Wer böse? Und wie böse?“
Unfreundlicher Nachbar
Das Viertel, in das Osnat mit ihrem Mann Dror und ihren beiden Töchtern gezogen ist, liegt im Süden Tel Aviv, und noch ist es keineswegs das neue Trendviertel. Der Nachbar ist und bleibt unfreundlich, das eigene Haus ist zwar teuer renoviert, aber nicht sicher, weder gegen Kakerlaken noch Eindringlinge, die einen Scheißhaufen im Bad hinterlassen. Dror fühlt sich beobachtet, wenn er an einer Software arbeitet, die Kinder vor Pornografie schützen soll, und Osnat, die die Familie ernährt, schwankt zwischen Selbstzweifeln und sexuellen Phantasien. Das Haus mit seinen großen Fenstern und hellen Räumen scheint sich gegen sie zu kehren.
„Offen ist schön? Wer sagt denn, dass offen schön ist? Auch geschlossen kann schön sein. Geschlossen ist fantastisch. Offen ist nur schön, wenn draußen nichts ist, außer Leuten wie du selbst, Anhänger derselben Religion, der Glaubensgemeinschaft der belgischen Landhausfenster.“
Alles hinterfragen
Noa Yedlin entwirft ein höchst unterhaltsames Portrait einer modernen Familie, die alles richtig machen möchte und sich verstrickt, weil ihr gewohnter Ausschnitt der Realität sehr schmal ist, denn die Erfahrungen dieser Schicht junger Erfolgreicher – oder nach Erfolg Strebender - sind begrenzt. Und alles Unerwartete provoziert eine Fülle von Ressentiments und brüchigen Gewissheiten. Osnat, aus deren Blickwinkel Noa Yedlin das Leben in der neuen, fremden Umgebung abtastet und erkundet, lässt sich auf eine Nachbarfamilie ein, denn die Kinder freunden sich an. Als sich herausstellt, dass diese einzigen neuen Freunde Kampfhunde züchten, muss sie sich gegen das geballte Misstrauen ihres Mannes stemmen – bis sie einen Hund geschenkt bekommen, der Dror überraschend zu neuem, männlichem Selbstbewusstsein verhilft. Wie subtil sich auch das Fundament dieser scheinbar so harmonischen Ehe verändert, beschreibt Noa Yedlin in wunderbar boshaften Sprachkaskaden, die uns als Leser und Leserinnen in eine ziemlich unbequeme Nähe zwingen.
„Dror hatte recht. Nicht alles musste man hinterfragen. Man konnte auch eine Probe von der Wahrheit nehmen und sie scheibchenweise präsentieren, eine Gewebeentnahme gewissermaßen. Von daher sprach sie sich vorübergehend frei von der heiligen Pflicht, ihm immer die ganze Wahrheit zu sagen, besonders, was ihre ungepflegten, hässlichen Randbezirke betraf.“
Hinter der der Fassade
Der Wahrheit über sich selbst sehen beide ebenso ungern ins Gesicht wie Yasmina Rezas räsonnierendes und streitsüchtiges Dramenpersonal, etwa in „Gott des Gemetzels“. Aus den Lebenslügen und Fassaden dieser ‚ganz normalen Familie‘ baut die israelische Bestsellerautorin einen Roman voller rasanter Spannung auf. Mit Witz und Esprit kommt sie einer ganzen Schicht von wohlmeinenden Akademikern auf die Schliche, denen die Angst vor dem sozialen Abstieg im Nacken sitzt und die deshalb die Werte, die sie wortreich für sich reklamieren, jederzeit opfern würden.
„Plötzlich musste sie an ihre Mutter denken – die Einzige, die wusste, dass Osnat noch immer ein kleines Mädchen war, dass nichts sich verändert hatte. Aber ihre Mutter war schon lange tot, und sie hatte keinen Beweis mehr für das Kind in ihr, hatte die Quittung verloren, hatte kein Recht mehr, das einzufordern.“
(Lore Kleinert )
Noa Yedlin, *1975 in Tel Aviv, israelische Schriftstellerin, deren Werke regelmäßig verfilmt werden
Noa Yedlin „Leute wie wir“
aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Roman, Verlag Kein & Aber 2021, 352 Seiten, 23 Euro
eBook 17,99 Euro