Maarten 't Hart
Der Nachtstimmer
„Eine Kirchenorgel hat einen etwas harten, starren Klang, das stimmt, aber der Mensch ist auch nicht gerade flexibel, vor allem mit zunehmendem Alter.“
Bosheit gegen Fremde
Orgeln, vor allem besonders kostbare alte Wunderwerke sind Gabriel Pottjewijds Berufung und Metier, denn sie müssen mit feinstem Gehör gestimmt werden, und das führt den musikbegeisterten, älteren Mann in die kleine südholländische Hafenstadt an der Maas. Weil die Schiffswerft de Haas Lärm macht, widmet sich der glatzköpfige Ich-Erzähler nachts seiner Aufgabe, unterstützt von der stummen Sanna, deren schöne Mutter Grazinha als Brasilianerin und Kapitänswitwe von den Männern verfolgt wird und als Außenseiterin abgestempelt ist. „Hier ist jeden Tag 1. April, aber Fremde, die können ihnen gestohlen bleiben. Wenn man hierherzieht, ist man schlichtweg Import, und Import bleibt man.“
Maarten `t Hart, der selbst aus Maassluis stammt, nimmt in seinem Roman die Engherzigkeit und Bosheit aufs Korn, die in diesen Achtziger Jahren gegenüber Fremden vorherrscht, obwohl sich der strenggläubige Calvinismus bereits auf dem Rückzug befindet. Sein musikbegeisterter Held schlägt sich selbst seit langem mit dem Verlust des Glaubens herum, bibelfest zwar, aber doch nicht mehr für Wunder zu haben:
„Eigenartig, so hatte sich bei mir eine Schraube aus der Metallkonstruktion des Glaubens gelöst, und diese lose Schraube hatte zu klappern angefangen, sie ließ sich nicht negieren, und danach hatten sich sukzessive andere Schrauben gelöst, und mit einem Mal war die stabile Metallkonstruktion in sich zusammengestürzt, und ich hatte bestürzt konstatiert: ich glaube nicht mehr.“
Schönheit der Musik
Doch die Bestürzung hat längst einer riesigen Erleichterung Platz gemacht, und als Gabriel damit konfrontiert wird, dass man ihm offenbar nach dem Leben trachtet und ihn en passant in ein Hafenbecken schubst, versucht er beherzt, den Widrigkeiten dieser Kleinstadt die Stirn zu bieten. „Die Gefahr hat mein Leben dort in diesem schmierigen, ernsthaft verdreckten Winkel der Niederlande auf jeden Fall weniger eintönig und fad gemacht, als es sonst ist.“
Auch dass er sich vorsichtig in Grazinha verliebt und in ihrer Tochter eine kluge und begabte Helferin beim Stimmen der beiden Orgeln der Stadt findet, gibt dem einsamen Orgelstimmer zu denken. Und so ist der ganze Roman eine klangreiche, vielstimmige Reflektion über das merkwürdige Leben, die Schönheit der Musik, die menschlichen Schwächen, denen man ausgesetzt ist. Sitzen Grazinha und Gabriel im selben Boot? Manchmal erscheint es ihm so, dann wieder denkt er an seine Frau, die er bei einem Zugunglück verloren hat und an die zahllosen Schwierigkeiten, die sich vor ihm auftürmen. Sein schier endloser Monolog führt die Leser in alle nur denkbaren Seitenwege, lockt sie in ausufernde Gedankenstrudel und entzieht sich den Erwartungen an Logik und Stringenz:
„Dieses Boot, in meinem Fall nach wie vor mit jeder Menge Herzweh an Bord, steuerte immer weiter in unbekannte Gewässer hinaus…Es stimmt nicht, dass die Zeit alle Wunden heilt, und sei es auch nur deshalb, weil man nicht will, dass manche Wunden heilen.“
Der niederländische Schriftsteller, selbst passionierter Amateur-Orgelspieler, lässt seinen schrulligen Helden eine Welt erkunden, die ihm Hindernisse in den Weg stellt und zugleich die Chance bietet, die Spiegelung dieser Hürden in sich selbst zu überwinden. Dabei stattet er ihn mit Empathie, Witz und Hartnäckigkeit aus, Tugenden, die Maarten 't Hart in seinem 76jährigen Leben mit Sicherheit zu schätzen gelernt hat und vor denen er sich in seinem neuen Roman flexibel verbeugt.
(Lore Kleinert)
Maarten ’t Hart, *1944 in Maassluis/Niederlande, Studium der Verhaltensbiologie, erfolgreicher Autor, insbesondere von autobiografischen Werken, die schon millionenfach verkauft worden sind
Maarten 't Hart „Der Nachtstimmer“
aus dem Niederländischen von Gregor Seferens
Roman, Piper Verlag 2021, 320 Seiten, 24 Euro
Weiterer Buchtipp zu Maarten ’t Hart
"Die grüne Hölle - Mein wunderbarer Garten und ich"