Kiran Desai
Erbin des verlorenen Landes
Indien Mitte der 80er Jahre: Der Gurkha Aufstand in Nepal ist tiefgreifend und brutal. Die Rebellen überfallen auch das alte Herrenhaus eines verbitterten Richters, der in England studiert und sich als alter Mann hierher zurückgezogen hat.
Schauplatz ist Kalimpong, ein kleiner Ort am Fuße des Himalaya, der all jenen Touristen ein Begriff ist, die im Länderdreieck Darjeeling, Sikkim und Buthan reisen. Von hier aus kann man einen Blick auf den majestätische Kangchenjunga werfen, den höchsten Berg Indiens, den die Bewohner Sikkims als heilig verehren.
Magische Natur
Ein bisschen am Ende der Welt lässt Kiran Desai ihren Roman spielen, im Schatten der magischen Natur, aber auch im Schatten vergangener kolonialer Zeiten und des erwachenden Nationalbewusstseins derer, die im eigenen Land unterdrückt werden.
Ihre Protagonisten stehen für eine Welt tiefer Widersprüche zwischen heimischen Traditionen und westlichen Einflüssen: der alte Richter, der sich als Inder in den Dienst britischer Herren begab, ist ein Menschenverächter. Einzig sein Hund ist ihm lieb und teuer, seine Ehe ist gescheitert.
Eines Tages sieht er sich mit seiner jungen Nichte konfrontiert. Sie wurde bislang in englischer Tradition im Kloster erzogen und wird nach dem Tod ihrer Eltern bei ihm leben. Sie verliebt sich in ihren Hauslehrer und erkennt eines Tages, dass sie alten Mustern entfliehen muss, wenn sie ihre Identität finden will.
Das Leben kannte mehr als ein Ziel, mehr als einen Sinn ... sogar mehr als eine Richtung. Was man ihr beigebracht hatte, war zu einfach gewesen. ... Sie dachte an all’ die National-Geographic-Hefte und all die Bücher, die sie gelesen hatte ... An die Weltkugel, die sich um ihre Achse drehte. Und da spürte sie ein Fitzelchen Kraft. Und Entschlossenheit. Sie musste fort.
Diener weisser Herren
Der bitterarme Koch des Richters dient seit Jahrzehnten weißen Herren. Seinen einzigen Sohn schickt er nach New York, damit er es mal besser hat. Aber statt eines imaginären Glücks erlebt er nur die bitterste Armseligkeit eines drittklassigen Einwanderers, der vergeblich auf eine Green Card hofft und sich von Job zu Job und von Kellerloch zu Kellerloch hangelt.
Es sind durchweg gebrochene, tragische und oft mürrische Figuren, deren Geschichte uns Kiran Desai zunächst fast ein wenig spröde erzählt als wolle sie sie nicht der Öffentlichkeit preisgeben. Diese Figuren stehen für den Zwiespalt des kolonialen Fluchs, für die Schere zwischen Arm und Reich in einem Land, das einerseits globale Wirtschaftsmacht ist, andererseits die bittere Armut nicht in den Griff bekommt.
"Es hieß etwas, sich in einem Land aus Reis und Linsen Schinkenröllchen in Dosen leisten zu können; es hieß etwas, jeden Abend in einem großen Haus an der Heizung sitzen zu können; es hieß etwas, dass andere all das nicht konnten. Derselbe Wohlstand, der sie wie eine Schmusedecke eingehüllt hatte, setzte sie der Welt nun ungeschützt aus. Inmitten der extremen Armut stach ihr Reichtum nackt hervor ... Der Zorn hatte sich zu Waffen und Parolen verdichtet."
Suche nach Identität
"Erbin des verlorenen Landes" ist trotz der politischen und sozialen Hintergründe, die die Autorin lebhaft, anschaulich, oft emotional, aber auch bitter in ihre Geschichten einfließen lässt, kein politisches Buch.
Es ist ein ebenso liebevoll wie schonungslos erzählter Roman, der in üppigen, manchmal düsteren und bedrückenden Bildern ein Land schildert, das noch immer im Bann des untergegangen britischen Empire steht. Aber die Suche nach einer eigenen Identität ist nicht mehr aufzuhalten.
(Christiane Schwalbe)
Kiran Desai *1971 in Indien, mit 14 Jahren nach England und Amerika, indische Schriftstellerin, lebt in USA, England und Indien
Kiran Desai "Erbin des verlorenen Landes"
Berliner Taschenbuch Verlag 2007, 432 Seiten, Taschenbuch 9,99 Euro
eBook 8,49 Euro