Marcel Möring
Im Wald
Marcus Kolpa ist Schriftsteller – ein berühmter sogar, denn er hat einen Weltbestseller geschrieben, existentielle Sorgen gibt es nicht mehr. Glücklich ist Marcus Kolpa deshalb nicht, höchstens sorgenfrei.
Vater und Tochter
Seine Tochter Rebecca ist sein einziger Lebensinhalt, sie großzuziehen eine Aufgabe, der er sich hingebungsvoll widmet – zurückgezogen von der Welt, in einem großen Haus auf einem Hügel, den man Berg nennt. Dort leben Vater und Tochter in selbstgewählter Einsamkeit, gut versorgt von einer Haushälterin, die Kolpas emotionale Distanzen akzeptiert. Sogar die Schule wird eines Tages ausgesperrt – Kolpa unterrichtet seine Tochter selbst.
Spurensuche
Der erfolgreiche Autor schreibt nicht mehr, sortiert nur, archiviert, sammelt, einigermaßen ziellos - ein Buchprojekt? Vielleicht. Dringlich ist es nicht, wichtig nur die Erziehung von Rebecca, deren Mutter kurze Zeit nach ihrer Geburt wie vom Erdboden verschwunden ist. Dann stirbt Kolpas Mutter, eine Jüdin, die – nicht mehr ganz jung – nach Israel auswanderte, um dort ein neues Leben anzufangen. Das Verhältnis zu ihrem Sohn war stets kühl, in Israel hat sie von ihm, so erfährt er später, nichts erzählt. Als habe es ihn nie gegeben. Wie seinen Vater, den Kolpa nicht kennt. Er erfährt nur von einer großen Erbschaft, die sie gemacht und ihm verschwiegen hat.
Entdeckung der Gefühle
"Es war, als stünde ich vor einer Mauer, die alles Licht wegnahm und nicht zu erklimmen war. Eine Mauer, die nicht verschwinden würde. Eine Mauer, die immer direkt vor mir stehen würde."
Angetrieben vom Tod der Mutter beginnt er, aus seinem selbst gewählten Schneckenhaus zu kriechen und das unsichtbare Netz zu entwirren, das ihn umgibt. Die jüdische Vergangenheit holt ihn ein und damit das wahre Leben der Mutter, das sie vor ihm verborgen hat. Er kommt seiner Einsamkeit und endlich auch seinen Gefühlen auf die Spur.
Verwundete Seele
Marcel Möring führt den Leser durch eine fesselnd erzählte Geschichte, die einem Krimi gleicht, so abenteuerlich und verworren sind die Details, die er nach und nach ausgräbt. Ein persönliches Schicksal, das für viele Tragödien steht, die Juden erlebt haben. Aber Vergangenheit lässt sich auf Dauer nicht verdrängen, ohne dass die Gefühle Schaden nehmen. Sie ans Licht zu holen, Erinnerungen Raum zu geben, heilt schließlich auch verwundete Seelen. Ein spannendes und berührendes Buch.
(Christiane Schwalbe)
Biografisches:
Marcel Möring, geboren 1957 in Enschede, gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Literaten der Niederlande. Für seinen ersten Roman "Mendel" erhielt er 1991 den wichtigsten Debütpreis des Landes, den Geertjan-Lubberhuizen-Preis, und weitere Romane wurden mit dem AKO-Literaturpreis, der Goldenen Eule und dem Flämischen Literaturpreis ausgezeichnet. Sein Roman "Der nächtige Ort" wurde 2007 mit dem Ferdinand-Bordewijk-Preis zum besten niederländischen Roman des Jahres gekürt. Möring lebt in Rotterdam.
Marcel Möring "Im Wald"
aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
Luchterhand Literaturverlag 2014, 512 Seiten, 22,99 Euro
eBook 18,99 Euro