Richard Flanagan
Die unbekannte Terroristin
Dieser Roman, geschrieben 2006, hat in unseren Zeiten des Terrorismus und der Angst nichts von seiner Aktualität verloren. Flanagans Vorbild war Heinrich Bölls "Die verlorene Ehre der Katharina Blum", und er spannt einen großen Bogen von der hysterischen Terroristenhatz der 70er Jahre in Australiens glänzende Metropole Sydney bis zum Terroranschlag in Bali, bei dem viele Australier getötet worden sind.
Alles umsonst
Gina Davies, eine Stripperin, Mitte 20, von fast altmodischer Schönheit, gerät ins Fadenkreuz einer öffentlichen Hexenjagd. Bomben werden entdeckt, ein Mann syrischer Herkunft, mit dem sie eher zufällig eine Nacht verbringt, wird als Terrorist gesucht. Die "Puppe", wie sie im Roman genannt wird, flüchtet zunächst zu einer Freundin, denn sie fürchtet, dass ihr niemand glaubt, und ihre größte Sorge gilt den hart verdienten vierzigtausendsiebenhundert Dollar, die sie gespart hat, um ein anderes, besseres Leben zu erobern.
"Sie würde es nie zurückbekommen, denn wie sollte sie beweisen, dass sie es auf legalem Wege verdient hatte? Die vielen, endlosen, beschissenen Nächte, die sie dafür gearbeitet hatte, diese Arschlöcher, die sie angelächelt und angemacht hatte, der ganze Scheiß, den sie sich hatte gefallen lassen, das viele Geld, mit dem sie ihren Körper bedecken wollte, um nicht mehr nackt zu sein – alles umsonst."
Als der gesuchte Mann tot aufgefunden wird, erscheint ihr Bild auf allen Kanälen, als Mörderin, Terroristin, schwarze Witwe, denn Richard Cody, ein zynischer, älterer TV-Moderator, wittert seine Chance, seine sinkenden Quoten aufzufrischen, als er die Frau aus seiner Stripperbar auf einem unscharfen Foto erkennt. Die Puppe ist auf der Flucht und muss von allem, was ihr etwas bedeutete, Abschied nehmen.
Prägende Gewalt
Richard Flanagan konfrontiert sie mit ihrem oberflächlichen, leeren Leben, mit ihren vergeblichen Bemühungen um Würde, mit der Gewalt, die sie prägte. Sie erkennt, wie sie Sexismus und Rassismus tagtäglich ebenso ausblendet wie alle anderen um sie herum.
"Die Puppe konnte jetzt sehen, dass sie nie anders als diese Männer gewesen war, dass sie sich, während die Geldscheine eine immer größere Fläche ihres Körpers bedeckten, weiter von allem entfernte, was sie eigentlich wollte - Freundschaft, Vertrauen, Gelassenheit, Liebe - dass sie abstürzte und keiner es ihr gesagt hatte, obwohl alle es wussten."
Korrupte Politiker
Mit fast schmerzlicher Intensität erleben wir mit, wie ihre Chancen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, schwinden, während Polizei, Terrorismusexperten, korrupte Politiker und die Phalanx der Medien sie zum Sündenbock machen, um ihrer aller kollektives Versagen, sich der Wahrheit zu stellen, zu übertünchen, denn der vermeintliche Terrorist war ein Drogenhändler.
Flanagan beschreibt, wie sehr es dieser Koalition aus Unvernunft und Machterhalt entgegenkommt, die Stimmung aufzuheizen und dafür zu sorgen, dass die Menschen Angst haben. Das Menschenbild, das dahinter steht und mit dem der wirklichen Terroristen korrespondiert, besagt, dass dumme und gedächtnislose Untertanen leichter zu führen sind. So könne der Kampf gegen die reale Bedrohung eher gewonnen werden, wie es ein Vertreter des Nachrichtendienstes formuliert:
"Die Leute können sich an nichts erinnern. Sie haben nur das vage Gefühl, dass irgendwas Böses im Anmarsch ist. Wenn sie keine Angst haben, entziehen sie uns die Zustimmung für alles, was wir tun und was wir sind."
Globalisierte Welt
Gina Davies‘ Welt des Voyeurismus, der sie ernährt, gepaart mit Gewalt und Drogenkonsum, ist von Sydneys feiner Gesellschaft weder getrennt noch weit entfernt: Die Gier nach Geld, nach billigen Kicks und glänzenden Oberflächen durchzieht längst alle Bereiche menschlichen Lebens in der globalisierten Welt. Flanagan macht die Ärmsten nicht zu Helden und die Mächtigen nicht zu Ungeheuern, sondern schildert ihre jeweiligen Variationen der Leere mit sprachlicher Brillianz und Scharfblick auf ein soziales Gefüge, das sich mehr und mehr auflöst.
"Die Welt hatte sich freiwillig von allem getrennt, was die Menschen an ihre Sterblichkeit erinnerte, an ihre Zerbrechlichkeit, an ihre Fähigkeit zur und ihrem Wunsch nach Transzendenz. Die Stadt war nicht mehr die schönste aller menschlichen Erfindungen, sondern die erdrückendste. Nichts blieb übrig, die Schrecken des Lebens auszugleichen."
Nur ein Leben
Wer "Die unbekannte Terroristin" als spannenden Thriller liest, kommt sicher auf seine Kosten, doch Richard Flanagan spielt mit den Regeln des Genres und stellt sie zugleich in Frage. Warum lohnt es sich, unsere Gesellschaft zu verteidigen, was sind die Werte, die uns kostbar sein sollten, oder ist das Grundgefühl unserer Seelen längst Öde und Langeweile – Fragen wie diese macht er am Schicksal der "Puppe" Gina Davies fest, die stellvertretend ihre Illusionen erkennen muss - und dass es immer nur das eine, einzige Leben gibt.
(Lore Kleinert)
Richard Flanagan *1961 in Tasmanien, weltweit veröffentlichter australischer Schriftsteller
Richard Flanagan "Die unbekannte Terroristin"
Aus dem australischen Englisch von Eva Bonné
Roman, Piper 2016, 336 Seiten, 22 Euro
eBook 19,99
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