Sarit Yishai-Levi
Die Schönheitskönigin von Jerusalem
"Warum Tote aufwecken? Warum von Dingen reden, die die Zeit nicht mehr heilen kann und die ohnehin verloren sind?" Weil die Dinge einen langen Schatten haben, - verloren sind eher die Nachgeborenen, die zu wenig über das wissen, was in ihren Familien geschah.
Büchse der Pandora
Gabriela nutzt die Gelegenheit, ihre Tanten erzählen zu lassen, was sie ihre Großmutter nicht mehr fragen konnte. Großmutter Rosa hatte das kleine Mädchen an ihren Erinnerungen an ihr hartes Leben, ihrem Schmerz über den Tod ihres Erstgeborenen teilhaben lassen, auch deshalb, weil ihre Tochter Luna sich wenig um ihr Kind kümmerte.
"Es war stärker als ich, ich lechzte danach, die Geschichte der Frauen in meiner Familie zu verstehen, strebte danach wie der Falter zum Licht. Ich würde mich vielleicht versengen, vielleicht Dinge erfahren, die ich später lieber nicht gewusst hätte, aber seit meine Großmutter mir die Büchse der Pandora geöffnet hatte, musste ich ihr auch auf den Grund gehen, um weiterleben zu können."
Strategie des Schweigens
Sarit Yishai-Levis Roman durchkreuzt die Schweigestrategien in der Familie Ermoza, indem sie aus wechselnden Perspektiven die Geschichten der Frauen und Männer zum Sprechen bringt. Die sephardischen Familien, seit der Vertreibung der Juden aus Spanien in Palästina ansässig, bildeten eine verschworene Gemeinschaft, in der die Ehepartner von den Eltern ausgewählt werden, denen man in jedem Fall Gehorsam schuldet. Schon der Urgroßvater Rafael liebt seine Frau nicht, und als sich auch der älteste Sohn Gabriel nach seiner Rückkehr aus Amerika in eine junge ashkenasische Frau, aus Osteuropa eingewandert, verliebt, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Seine Mutter zwingt ihn zur Heirat mit der unattraktiven Rosa, und eine Spur von Lieblosigkeit und kalter Pflichterfüllung zieht sich durch die Generationen wie ein Fluch.
Emotionale Distanz
Gabriel führt ein erfolgreiches Geschäft auf dem Machane Jehuda Markt in Jerusalem, und seine schöne Tochter Luna wird sein Ein und Alles, während er seine Frau für die verlorene Liebe straft.
"Ach, Herr der Welt, was hat sie getan, dass sie dieses Verhalten ihres Ehemannes verdient, womit hat sie gesündigt, kaparavonó, dass ihr Mann nach so vielen Jahren, in denen sie Senyora Ermoza ist, immer noch so behandelt wie den Stuhl, auf dem er beim Radiohören sitzt."
Und ihr Verhältnis zur ältesten Tochter, der schönen Luna, die "nichts mehr liebte als sich hübsch anzuziehen, zu lachen und zu tanzen", ist so heillos wie später das Lunas‘ zu ihrer Tochter Gabriela.
Die Autorin schildert die Frauen der Ermozas facettenreich und sehr lebendig, indem sie ihre Eigenheiten in ihrem jeweiligen Erfahrungsbereich entwickelt, positiv wie negativ. Emotionale Distanz und Lieblosigkeit in engen Lebensverhältnissen lässt jede auf ihre Art verzweifeln und zugleich nach Auswegen aus der Misere suchen, sei es durch Arbeit, durch die Beteiligung an Israels Unabhängigkeitskampf oder indem sie erfüllendere Beziehungen suchen, auch um den Preis der Lüge.
Sehnsucht nach der Mutter
Luna, die als schönste Frau Jerusalems gefeiert wird, steht als Tochter und als Mutter dabei im Zentrum. Glücklich wird sie nur als Schwester und später auch als Geliebte eines schwer verwundeten Soldaten; ihre Ehe erfüllt die großen Hoffnungen, auch ihres Mannes, nicht, und die Tochter Gabriela erkennt erst nach ihrem Tod, wie wichtig Mutterliebe gewesen wäre:
"Zum ersten Mal weinte ich um meine Mutter, zum ersten Mal gestand ich mir selber ein, dass ich mich nach ihr sehnte, dass sie mir fehlte, dass ich ihre Liebe brauchte, damit sie mich vor dem Chaos bewahrte, in dem ich steckte, und vor mir selbst."
Yishai-Levi beschreibt die sephardische Sicht auf das Leben mit großer Kenntnis und Empathie und in einer farbigen, reichen Sprache, die die Geräusche und Gerüche im Jerusalem der 40er und 50er Jahre spürbar werden lässt, und sie zeichnet die allmähliche Öffnung für politische und gesellschaftliche Umbrüche mit kraftvollen Strichen nach.
Blinde Flecken
Sie lässt keinen Zweifel daran, dass Frauen besonders eingeschränkt lebten und die Tradition für sie eine Fessel war, die durch die gängige Kultur des Schweigen besonders schmerzte:
"Bei uns spricht man nicht über solche Dinge. Keiner hat uns je erklärt, was man in der Hochzeitsnacht tut oder nicht tut. Früher mal haben die Mütter ihren Töchtern was erklärt und die Väter ihren Söhnen, aber bei uns nada, meine Mutter hat nichts erklärt und nicht gesagt, was man tun muss und was nicht."
Gabriela erfährt von den Frauen, die ihr Schweigen schließlich brechen und die blinden Flecken der Erinnerung füllen, welche Tragödien und Geheimnisse die Familie geformt haben. Dass auch die Männer ihren Anteil an Leid, Verdrängung und Verzweiflung zu tragen hatten, beschreibt die Autorin, deren Roman in Israel lange auf den Bestsellerlisten stand, mit Einfühlungsvermögen und mit besonderem Augenmerk auf den "Fluch" der vier Generationen von Frauen.
Aktuelle Konflikte
Ihr Roman ist zugleich eine sehr spannende Geschichte der Staatsgründung und der Rolle der Sepharden, die seit dem Ende des 15. Jahrhundert ihr gelobtes Land im gesamten Mittelmeerraum und im heutigen Israel fanden. Die Vorurteile der Sepharden, die ein gutes Verhältnis zu den arabischen Nachbarn hatten, gegenüber den ashkenasischen Juden wirkten sich verhängnisvoll aus, denn die Diskriminierung kehrte sich schließlich gegen sie, und einige der aktuellen Konflikte in Israel werden durch diesen Roman besser verständlich.
(Lore Kleinert)
Sarit Yishai-Levi *1947 in Jerusalem in einer sephardischen Familie, war Schauspielerin, Journalistin, Korrespondentin und Moderatorin
Sarit Yishai-Levi "Die Schönheitskönigin von Jerusalem"
Aus dem Hebräischen übersetzt von Ruth Achlama
Roman, Aufbau Verlag 2016, 618 Seiten, 22,95 Euro
eBook 16,99 Euro