Kapka Kassabova
Am See. Reise zu meinen Vorfahren in Krieg und Frieden
„Wie viele halb erfrorene Männer hatten auf diese zwei Seen, zwei Augen in einem uralten Gesicht, hinabgeblickt und um einen Waffenstillstand gebetet? Die Berge vervielfachen sich, immer wieder, majestätisch und leer wie die Zeit selbst.“
Spuren der Vertreibung
Vor hundert Jahren waren die Bergketten zwischen dem Ohrid- und dem Prespasee Austragungsorte multinationaler, blutiger Schlachten. Im Ersten Weltkrieg verlief hier die strategisch wichtige Mazedonische Front, mit der von Österreich unterstützen bulgarischen Armee auf der einen und britischen, griechischen, französischen und serbischen Truppen auf der anderen Seite. Wer wie Kapka Kassabova in die Geschichte ihrer Vorfahren aus dieser großen Südbalkanregion eintaucht, kommt an den Kriegen der ferneren und nahen Vergangenheit nicht vorbei, denn in der Erinnerung derer, denen sie begegnet, sind sie erschreckend real und gegenwärtig. Die Spuren der Vertreibung, von Albanern, Türken, Mazedoniern, Bulgaren, von Christen oder Juden oder Muslimen sind unübersehbar, wenn man sie denn lesen kann, und die Autorin kennt die Geschichte dieser Region bestens und lässt sich von den Menschen auf ihrer Reise leiten, von entfernten Verwandten ebenso wie von Zufallsbekanntschaften, in Albanien, der Republik Nordmazedonien bis nach Griechenland.
Kampf ums Überleben
Die Namen in dieser entlegenen Gegend sind aufschlussreich: Am Ohridsee liegt das Dorf der Erbärmlichen, und der Weg zum Prespasee führt durch das Jammertal, vorbei am Trockenen Berg zum Trockenen Dorf. Der Kampf ums Überleben prägte die Menschen, die die wechselnden Herrschaften versunkener Großreiche über sich ergehen ließen und sich immer wieder anderen Sprachen und Religionen anpassten. Die Frauen von Prespa etwa, so ein ehemaliger Volkstänzer, der Trachten aus allen Regionen Mazedoniens in einem kleinen Volkskundemuseum in seinem Haus versammelt, waren gut als Witwen, denn ihre Männer waren fast immer fort:
„Gurbet: türkisch für Arbeit im Ausland oder Exil. Auf dem Balkan gibt es eine eigene Gurbet-Kultur: Gurbet-Lieder, Gurbet-Häuser, Gurbet-Vermögen und Gurbet-Witwen. Bis zum heutigen Tag. Und so werden, während die Männer abwesend oder unzulänglich sind, Mütter und Töchter und Großmütter miteinander in einer Art schwarzer Hochzeit vermählt.“
Die Kulturen des südlichen Balkans entstanden aus einer Diversität, die viele Reiche und Tausende von Jahren überlebte, um schließlich vor gut hundert Jahren neu entstandenen Nationalstaaten zum Opfer zu fallen. Das Ergebnis umreißt Kassabova, die in Sofia geboren wurde und heute in Schottland lebt, so: „Monokulturen bei Menschen wie Umwelt und ein rapider Abstieg.“ Die Grafitti des Klosters Sveti Naum am Ohridsee sind in fünf Sprachen eingekratzt, mazedonisch, bulgarisch, serbisch, albanisch und griechisch, und die kostbaren Fresken aus dem 13. Und 14. Jahrhundert wurden verwüstet und dem Verfall preisgegeben. Kassabova schafft fließende, elegante Übergänge zwischen deskriptiven und reflexiven Passagen. Einer der Vorfahren der Autorin ist ihr Ur-, Ur-,Ur-, Urgroßonkel Dimo, der die Plünderung der albanischen Stadt Ohrid durch Banditen verhinderte. Dimo hatte eine Handelslizenz vom Sultan, sprach albanisch, türkisch, griechisch und bulgarisch.
Ende einer Epoche
„Dimo der Albaner trug immer Waffen, und das war, stelle ich mir vor, der wichtigste Teil seiner Identität, denn es bedeutete Überleben.“ Als Angehöriger der Gegen in Nordalbanien durfte er bewaffnet bleiben, denn sie waren von den Osmanen nie vollständig unterworfen worden, während christliche Haushalte in ganz Rumelien entwaffnet wurden. Irgendwann wurde er dennoch getötet, die Blutrache der Banditen verjährte nicht, und Dimos Geschichte markiert das Ende einer Epoche: er gehörte zur letzten Generation von Händlern, die auf der uralten Route vom Ohridsee über Italien nach Mitteleuropa unterwegs waren. Geschichte wie diese erzählen von riesigen Kulturräumen und ihren Verbindungen, die ebenfalls Spuren hinterlassen haben, schwer zu entziffern, weil Kriege und Auslöschungen sind über sie hinweggegangen sind.
„Unsere Tragödie ist Fragmentierung. Es beginnt als Geisteszustand und endet als Schicksal. Es ist die Tragödie unserer Nationenfamilie, die über diese große Halbinsel hinkt, diese exquisit hingesetzte Erde, wie eine Armee blinder, tausend Jahre alter Soldaten, die einen Platz suchen, um sich auszuruhen.“
Schatten der Gewalt
Kapka Kassabovas Reise zu ihren Vorfahren ist auch deshalb so fesselnd und reich, weil sie den Traumata der Geschichte in der eigenen Familie nachspürt, die Generationen von Emigranten und Flüchtlingen hervorbrachte. Sie verbindet das Wissen um die politischen Verwerfungen mit der Erkundung der seelischen Auswirkungen von Furcht und Verlust, und so unterlegt sie die Topografie der wunderschönen Landschaft zwischen den Seen mit den Schatten der Gewalt, die bis in die Gegenwart reichen und für das Fortwirken destruktiver Impulse sorgen:
„Es war die dunkle Macht auf unseren Fersen, die Macht, die sich in mysteriösen Schmerzen, Tumoren, Entfremdungen und zellularer Qual manifestiert hatte: das Gespenst der Furcht.“
(Lore Kleinert)
Kapka Kassabova, *1973 in Sofia/Bulgarien, Literaturstudium in Neuseeland, Journalistin und Autorin, lebt in den schottischen Highlands
Kapka Kassabova „Am See. Reise zu meinen Vorfahren in Krieg und Frieden“
aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer
Paul Zsolnay Verlag 2021, 415 S.eiten, 26 Euro
eBook 19,99 Euro