Philippe Sands
Die Rattenlinie - Ein Nazi auf der Flucht
Lügen, Liebe und die Suche nach Wahrheit
1949 stirbt Otto von Wächter, der ehemalige Gouverneur von Krakau und später von ganz Galizien, im Krankenhaus Santo Spirito in Rom. Er befand sich, wie so viele NS-Täter, auf der Flucht über die sogenannte Rattenlinie nach Südamerika.
Der Sohn
Sein Sohn Horst ist fest davon überzeugt, dass er vergiftet wurde. Ein weiteres Credo des Sohnes:
"Sein Vater war ein anständiger Mensch, ein Optimist, der versuchte, Gutes zu tun, aber in Gräuel verwickelt wurde, die auf das Konto anderer gingen."
Philippe Sands erforscht dem Lebenslauf Otto von Wächters, er steht im engen Kontakt mit dem Sohn und versucht in Gesprächen, aber auch durch die Sichtung der umfangreichen Sammlung an Briefen und Dokumenten der Familie sowie der Archive, 70 Jahre später die Ereignisse, die Wächter nach Rom geführt haben, zu rekonstruieren. Der Sohn vertraut ihm, das spürt man, aber auch, dass dieser auf die Reinwaschung des Vaters hofft.
Der unaufhaltsame Aufstieg
Der Österreicher Wächter tritt zunächst als Anwalt der Partei in Erscheinung, nach dem Juliputsch und der Ermordung des Kanzlers Dollfuß muss er aus Wien fliehen. Seine Frau Charlotte hält zu diesem Zeitpunkt bereits die Entwicklungen in ihrem Tagebuch fest. Es ist von nun an die Geschichte eines ständigen Aufstiegs im NS-System, das Paar genießt die privilegierte Stellung und ist, wie Charlotte noch im Jahr 1977 im Gespräch mit einer Journalistin bestätigt, vom Nationalsozialismus begeistert. 1939 gelangt Otto nach Krakau, wo er schnell zum Gouverneur ernannt wird und für die Einrichtung des Ghettos zuständig ist. 1942 trifft er in Lemberg ein und eine seiner ersten Amtshandlungen ist es, die "Anordnung über den Arbeitseinsatz von Juden" zu unterschreiben.
Die Flucht
Als die Rote Armee Lemberg erreicht, verlässt Otto die Stadt und Charlotte schreibt gegenüber ihren Kindern die Heldengeschichte, dass er als Letzter Lemberg verlassen habe, fort. Er wird nach Italien versetzt. Bei Kriegsende ist er dann in Österreich unterwegs und verschwindet für die nächsten drei Jahre in den Bergen. Charlotte unterstützt ihn mit Lebensmitteln und Kleidung, bis er sich schließlich 1949 nach Rom aufmacht.
Zwischen Thriller und Sachbuch
Von da an gerät die Geschichte zum Agententhriller und es ist nur folgerichtig, dass sich Sands von seinem Nachbarn John le Carré beraten lässt. Le Carré schließt die Amerikaner als Täter aus und bringt jüdische Rache ins Spiel, der Sohn geht fest davon aus, dass es die Sowjets gewesen sind und Sands trifft sich schließlich mit medizinischen Spezialisten, um herauszufinden, ob es tatsächlich ein Giftanschlag gewesen sein kann. Er folgt langatmig und detailliert jeder Spur, so dass sich beim Leser nach und nach Ermüdungserscheinungen einstellen.
Was faszinierend bleibt, ist die Darstellung der Familiengeschichte und die Verknüpfung mit den politischen Ereignissen der Zeit, die deutlich macht, mit welcher Selbstverständlichkeit die Familie zur Ausbeutung und zur Ermordung von Menschen beigetragen hat.
(Iris Knappe)
Philippe Sands, *1960 in London, Anwalt, Schriftsteller und Professor für Internationales Recht, lebt in London.
Philippe Sands "Die Rattenlinie - Ein Nazi auf der Flucht"
Lügen, Liebe und die Suche nach der Wahrheit
Aus dem Englischen von Thomas Bertram
S. Fischer Verlag 2020, 544 Seiten, 25 Euro
eBook 22,99 Euro