Andrea Wulf
Fabelhafte Rebellen
Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich
„Ich bin gewiß um so glücklicher, je freyer ich mich weiß“. Caroline Michaelis-Böhmer-Schlegel-Schelling trug die Namen ihres Vaters und ihrer drei Ehemänner, und sie war hübsch, neugierig, belesen und sich ihrer selbst gewiss.
Herz und Geist
Kein Wunder also, dass sie die Französische Revolution mit ihren Freiheitsversprechen begeistert begrüßte. Das Beschwören einer neuen Welt brachte die Witwe mit kleiner Tochter nach der Niederschlagung der Mainzer Republik sogar ins Gefängnis, doch wenig später wurde sie „das Herz und der Geist einer Gruppe junger Männer und Frauen…, die hofften, die Welt zu verändern“.
Ihrer aller Geschichte erzählt Andrea Wulf in einem opulenten, gut lesbaren Buch, in dem sie Caroline und ihrem Esprit einen besonderen Platz einräumt. Für wenige Jahre wurde die kleine, liberale Universitätsstadt Jena in einem in zahlreiche Fürstentümer zersplitterten Land zum Zentrum geistigen Lebens, denn erstmals versuchten die Schriftsteller und Philosophen, Dichter und Professoren den menschlichen Geist „aus dem Korsett der Doktrinen, Regeln und Erwartungen“ zu befreien, und ihre Wirkung war ungeheuer groß.
Wunderkinder
Im Sommer 1794 wollte der 32jährige Johann Gottlieb Fichte, der „Bonaparte der Philosophie“, wie ein Student ihn beschrieb, das Verhältnis zwischen dem Ich und der Außenwelt neu bestimmen. Er versprach Freiheit, die ohne Moral nicht möglich sei, und wurde dennoch von seinen Gegnern kritisiert, dass er zu egoistischer Selbstverliebtheit verführe. Der viel ältere Goethe jedoch ließ sich von den neuen Ideen faszinieren, nannte die Geselligkeit „Seelenspeise“, und auch Wilhelm und Caroline von Humboldt zogen nach Jena, übersetzten Shakespeare und schrieben eifrig.
Friedrich Schiller, der die geistige Freiheit der kleinen Stadt genoss, lud August Wilhelm Schlegel nach Jena ein, der hier Caroline als ihren zweiten Ehemann heiratete und 1796 war der Kreis schon fast komplett. Der 24 Jahre alte Dichter Novalis kam hinzu und widmete sich tiefer Trauer um seine junge Angebetete und gnadenloser Selbstanalyse, und Alexander von Humboldt präsentierte die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Experimente, wenn er nicht gerade wieder unterwegs war. Wie Fichte waren auch Schelling und Tieck Wunderkinder, und Friedrich Schlegel, Wilhelms jüngerer, hochbegabter Bruder, führte sie zusammen und nach Jena – während sich bereits die ersten Risse unter den befreundeten Paaren zeigten.
Ein Zauberkreis
Die Frauen standen in ihrer Produktivität den Männern nicht nach: Allerdings erschienen Caroline von Humboldts Arbeiten stets unter dem Namen ihres Mannes, und Dorothea Veits Mitarbeit am Werk ihres Geliebten Friedrich Schlegel blieb im Schatten. Caroline Schlegel, von allem bewundert, von einigen geliebt und von wenigen mit bitterer Eifersucht geschmäht, war in diesen fruchtbaren Jahren am Ende des 18. Jahrhunderts die Seele des Jenaer Freundeskreises.
„Carolines Persönlichkeit bestimmte den Rhythmus und das Tempo der Gespräche. Würde man die Gruppe mit einem Orchester vergleichen, so war sie die Dirigentin, die die Partitur zum Leben erweckte…Freunde und Gäste schätzten ihre Gastfreundschaft, ebenso wie ihre intellektuellen Beiträge…Sie wurden alle in diesen ‚Zauberkreis‘ hineingezogen.“
Auch dann noch, als Caroline sich in Deutschlands jüngsten Philosophieprofessor Friedrich Schelling verliebte, dessen Theorie, dass die Natur und das Ich ein zusammenhängendes Ganzes bildeten, ihn mit 23 Jahren berühmt machte. Doch über Fragen der Religion und der Freiheit der Frau begann man sich zu entfremden, hinzu kamen Eifersüchteleien und offene Konkurrenz: Wer kann publizieren? Wer hat den größten Erfolg? Wer kann gut von seiner Arbeit leben und wer nicht? Und wer unterstützt und ergreift Partei für wen? Dass die eheliche Treue nicht länger als Ideal betrachtet wurde, zumindest nicht von allen, sorgte ebenso für Irritationen, und nicht zuletzt schlugen die herrschenden Fürsten mit aller Macht zurück.
Intellektuelles Feuerwerk
Andrea Wulf entwickelt die sich verändernden Beziehungen unter den Akteuren immer im Einklang mit den Ideen und Debatten, den politischen Verhältnissen und mit genauem Blick auf die menschlichen Beschwernisse und Empfindlichkeiten der einzelnen Männer und Frauen. Die Autorin hat die Gabe, die Ideen und Gefühle der einzelnen Akteure lebendig werden zu lassen, wie auch ihre zum Teil höchst komplizierten Eigenarten und Marotten, und führt sie in einer aufregenden Gruppenbiografie zusammen. Und wer den Aufbruch aus der Enge in den sechziger und frühen siebziger Jahren des 20. Jahrhundert miterlebte, kann sich unmittelbar in das intellektuelle Feuerwerk und seine Wirkung in Jena hineindenken und -fühlen.
Zahllose Briefe, Artikel, Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen Beteiligter unterfüttern die Geschichte ihrer revolutionären Feier des freien Willens und der Entdeckung des mündigen Ichs auf anschaulichste Weise und lassen die Erkenntnisse und Ideen funkeln. Was aus ihnen wurde und welch weitreichende Wirkung sie auf die Dichter und Denker anderer europäischer Länder hatten, ist ebenso geistreich und lebendig dargestellt wie Napoleons Eroberungen nach 1806, die auch die lebendige Stadt Jena schließlich verfallen ließen.
Epoche der Freiheit
Für Hegel, der als einer der letzten zum brillanten Jenaer Kreis gestoßen war, war der Sieg des französischen Kaisers allerdings der Beginn einer Epoche der Freiheit von feudaler Unmündigkeit, hatte er doch sein einziges Manuskript der ‚Phänomenologie des Geistes‘ durch die feindlichen Linien schmuggeln und retten können. Dass es keinen gradlinigen Weg in eine bessere Zukunft geben würde, konnte er so wenig ahnen wie die ‚fabelhaften Rebellen‘.
„Der Kreis der Jenaer Frühromantiker hat unserem Verstand Flügel verliehen. Wie und wozu wir diese Flügel nutzen, liegt ganz bei uns“.
(Lore Kleinert)
Andrea Wulf, *1972 in Neu-Delhi/Indien, aufgewachsen in Deutschland, Kunsthistorikerin, Journalistin und Sachbuchautorin, lebt seit langem in London
Andrea Wulf "Fabelhafte Rebellen"
Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich
aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
Verlag C.Bertelsmann 2022, 525 Seiten, 30 Euro
eBook 19,99 Euro, AudioCD 21,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Andrea Wulf
Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur