Aron Boks
Nackt in die DDR
Mein Urgroßonkel Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat
„Einer, der erst für die Freiheit kämpfte und später zum Staatsmaler einer Diktatur wurde. Zwei Leben in einem Satz ohne Fragezeichen.“ Als Aron Boks anlässlich des hundertsten Geburtstags seines Urgroßonkels Willi Sitte 2021 begann, sich mit ihm zu beschäftigen, bezog er sich zunächst auf Feuilletonartikel und Familienerzählungen. Doch je tiefer er in Sittes Geschichte eintauchte, desto mehr Fragen stellten sich.
Ein Familienbild
In seinem Buch zeichnet er seine Spurensuche nach, konfrontiert sich mit seinem eigenen mangelnden Wissen, indem er auch die Erfahrungen, die er in jedem der zahllosen Gespräche über Willi Sitte macht, zur Sprache bringt, und die Erinnernden selbst einbezieht, mit Respekt vor ihren jeweiligen Standpunkten. Ausgangpunkt seiner Suche ist ein altmeisterliches Familienbild, das Sitte mit neunzehn Jahren malte. Boks Großmutter bewahrte dieses Bild ihres Lieblingsonkels auf dem Dachboden auf, und daran knüpft sich die Geschichte der kommunistischen Familie Sitte. Als Sudetendeutsche verließen die Sittes ihre tschechische Heimat und landeten in und um Wernigerode im Harz. Willi Sitte desertierte im Krieg, wie auch sein Bruder Franz, und ging in den italienischen Widerstand. Wegen seiner Verdienste wurde er Ehrenbürger von Montecchio, wo er auch seinen ersten Bilderzyklus ‚Totentanz des Dritten Reiches‘ fertigstellte. Mit sechsundzwanzig Jahren kam er 1947 nach Halle an der Saale, wurde bald Dozent an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein, und hier begann ein Tauziehen unwürdigster Art mit den Funktionären der SED, das fast ein Vierteljahrhundert dauern sollte.
Zwischen Kitsch und Kunst
Dass Sitte Anfang der 60er Jahre Konzerte mit Wolf Biermann organisierte, mit Christa und Gerhard Wolf, Sarah und Rainer Kirsch befreundet war, ist hinter dem Bild des späteren Staatskünstlers verschwunden. Doch sein Urgroßneffe Boks arbeitet seinen zähen Kampf dieser frühen Jahre um den eigenen künstlerischen Ausdruck akribisch heraus. IM-Berichte, derer es viele gab, bestätigen, wie wenig die Partei, die doch für Sitte und die meisten seiner Familienmitglieder die einzig wichtige war, mit dem hochbegabten Mann anfangen konnte: immer wieder warf man ihn Formalismus und „ästhetische Selbstbefriedigung“ vor, und die beiden Selbstmordversuche Sittes hatten nicht nur private Gründe. Zum Schweigen ließ sich der Maler nicht bringen; so beschreibt ein IM-Bericht, dass Sitte sich über die V. Deutsche Kunstausstellung der DDR empört habe:
„Dort herrsche „eine verletzende Toleranz gegenüber dem Kitsch und eine beckmesserische Intoleranz gegenüber der wahren Kunst“.
Die ganze Ausstellung sei überhaupt „Ausdruck der schlechten Kultur- und Kunstpolitik“ des Staates, und er werde dementsprechend „nie wieder zu großen Ausstellungen in der DDR ausstellen“. Das blieb nicht so, doch als 1965 das zweijährige Experiment einer freieren Kunst- und Kulturpolitik wieder beendet und unliebsame Filme und Schriften rigoros verboten wurden, wuchs auch das Misstrauen gegen Willi Sitte wieder.
Überleben in der Diktatur
Erstaunlich, wie nicht nur Willi, sondern auch seine Brüder sich in dieser DDR, der ihre Herzen gehörten, Wege fanden, sich zu arrangieren und doch nicht mundtot zu werden. Was Willi Sitte im Gespräch mit Günter Gaus 1996 zu seinen Illusionen äußerte, trifft sicher für sie alle zu:
„Was ich aus dieser Situation heraus geschaffen habe, habe ich mit Überzeugung getan. Ich stehe auch heute noch dazu. Es ist ein Teil meines Lebens, meiner Lebensauffassung gewesen. Auch, wenn sie sich im Laufe der Zeit dann verändert hat. Aber diese Periode kann ich nicht einfach streichen, will sie auch nicht streichen.“
Was aber den Umschwung zum gefeierten und mit Macht ausgestatteten Staatskünstler Sitte bewirkte, ist angesichts seines frühen Ringens um Anerkennung und einen eigenen künstlerischen Weg im Geiste Pablo Picassos schwer nachzuvollziehen. Aron Boks gelingt es immerhin, viele Facetten dieses Lebens und Überlebens in der Diktatur herauszuarbeiten und in ihrer Widersprüchlichkeit nachvollziehbar werden zu lassen. Ab Anfang der siebziger Jahre werden Sittes Bilder, die nun ‚die Liebe‘ zeigen sollen, „nackt, frei und innig. Fleischig und anstößig“ auch in der DDR gezeigt, aber er bleibt der umstrittenste Maler seines Landes. „Diese nackten Figuren kennt bald jeder in der DDR als „Fleischberge“. Ein etwas ekliges Wort, welches dennoch zu Willi Sittes Markenzeichen werden sollte…Und in der Bevölkerung wird schon bald gelästert: ‚Lieber vom Leben gezeichnet als von Sitte gemalt‘.“
Ungewöhnliche Annäherung
Treffend erinnert sich sein ehemaliger Student Gerhard Schwarz, der vermutet, dass Sitte seiner eigenen Virtuosität etwas auf den Leim gegangen sei:
„Er war ein großartiger Könner, ohne Frage. Aber seinen Bildern haftete irgendwann etwas Typisches an, das die ganze DDR betraf. Dieses Rosa-Rötliche, also dieses Fleisch, was er malte. Dann diese oft lachenden Gesichter. Das hatte etwas Aufgesetztes, so wie die DDR eben auch war.“
Boks bettet Willi Sittes Geschichte in die seiner Familie ein, und er nimmt ihre Erinnerungen und die der vielen Zeitzeugen gleichermaßen ernst und setzt sich im Schreiben ihren Widersprüchen aus. Damit ermöglicht er eine ungewöhnliche Annäherung auch an das Land DDR, das es nicht mehr gibt und das doch für viele Heimat war. Noch 1986 wurde eine Ausstellung mit Sittes Werken in der Bundesrepublik abgesagt, mit der Begründung, er sei als Deserteur ein Vaterlandsverräter. Auch dies muss man wissen, um es sich mit der deutschen Geschichte und ihren Irrwegen nicht zu leicht zu machen. Aron Boks bezieht die Bilder seines Urgroßonkels, die 2021 in einer großen Ausstellung zum 100. Geburtstag gezeigt wurden, in seine Annäherung unvoreingenommen ein, und er stellt Fragen:
„Ich sehe wieder auf die Figur im Bild. Die ‚Am Kalten Buffet‘. Auf den feisten Funktionär, den Willi Sitte so angeekelt beschreibt. Was ist das für ein Gemälde? Eine Momentaufnahme, eine Selbstbefragung, eine Analyse oder tatsächlich nur eine Beobachtung – oder doch irgendwie alles zusammen?“
(Lore Kleinert)
Aron Boks, *1997 in Wernigerode/Harz, Schriftsteller und Journalist, lebt in Berlin Neukölln
Aron Boks "Nackt in die DDR"
Mein Urgroßonkel WILLI SITTE und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat
Verlag Harper Collins 2023, 400 Seiten, 24 Euro
eBook 17,99 Euro