Silke Müller
Wir verlieren unsere Kinder!
Dass die Welt der sozialen Medien alles andere als sozial ist, sondern - im Gegenteil - brutal, unmenschlich und verstörend sein kann, das weiß man, auch ohne ständig auf TikTok, Instagram oder Facebook & Co. unterwegs zu sein.
Fehlende Empathie
Aber Kinder und Jugendliche sind dort ständig unterwegs – beliebig, unkontrolliert und unvorbereitet auf Videos von Kriegsverbrechen, Folter, Pornografie, bestialischer Tierquälerei oder auf scheinbar harmlose Memes über politische Radikalität – alles im Klassen-Chat oder auf Social Media geteilt. Hinzu kommen Mobbing und Häme gegen MitschülerInnen, die nicht selten daran zerbrechen. Als erste Digitalbotschafterin Niedersachsens beobachtet Silke Müller regelmäßig, was in den sozialen Netzwerken passiert, und wie Schüler und Schülerinnen damit umgehen:
„Es wächst eine Generation heran, die möglicherweise zu verroht ist, um echtes Mitgefühl zu empfinden, für die Empathie und Rücksicht, Toleranz und Respekt, Höflichkeit, Privatsphäre, Intimität und Selbstachtung vielleicht Fremdwörter bleiben werden.“
Besonders gefährdet, so schreibt sie, sind Kinder ohne stabiles Elternhaus, die, weitgehend sich selbst überlassen, unkontrolliert und im Übermaß konsumieren, womit TikTok und Co. jeden Tag sensible Kinderseelen bombardieren. Spezielle Filter oder zeitlich Begrenzung der Handynutzung bringen gar nichts, so ihr Fazit. Eltern und Lehrer dürften nicht weiterhin wegsehen, nur weil es zu mühsam ist, sich intensiv mit dem auseinanderzusetzen, was Smartphones in Kinderzimmern anrichten.
„Ihre Heimat ist nicht mehr nur das Klassenzimmer, der Freundeskreis und die Familie, sondern schon längst die Welt der sozialen Netzwerke … Hier aber sind sie oft ohne Richtlinien, Hilfe, moralischen Kompass und Grenzen unterwegs. Es herrscht quasi eine Anarchie im Netz, wo das Recht des Lautesten zählt.“
Bedenkliches Ausmaß
Weder gibt es eine digitale Ethik, sagt Silke Müller, noch eine Medienkompetenz zuhause oder in der Schule. Und dies, obwohl die Smartphone-Nutzung vieler Kinder längst ein bedenkliches Ausmaß erreicht hat und es durchaus Unsicherheit im Umgang mit den Inhalten gibt. Ein Beispiel: Als während der großen Pause drei Jungs bei ihr anklopfen, um über Probleme mit der Klassen-WhatsApp-Gruppe zu sprechen, erfährt sie, wie sehr Eltern sich eben nicht kümmern, sondern Probleme ihrer Kinder damit abtun, „den Mist“ einfach zu löschen oder aus der Gruppe auszutreten. Silke Müller dagegen garantiert den Schülern Anonymität, weil sie Angst haben, zu „petzen“, und bekommt verharmlosende Hitler-Memes zu sehen. Soll sie die Kinder auffordern, die Sachen einfach zu löschen, die Eltern anrufen und sie auf solche Inhalte und ihre Folgen hinweisen?
„Ein solches Agieren wäre in meinen Augen jedoch eine absolute Niederlage im Kampf gegen die unfassbare Verrohung im Netz. ... Ich denke, wir verlieren unsere Kinder und vor allem ihre Seelen und ihre psychische Unversehrtheit deswegen in den Tiefen der Netzwerke, weil wir nicht hinschauen. Vielleicht aus Ignoranz, vielleicht aus Arroganz. Zumindest aber ist unser Wegschauen fahrlässig und naiv."
Rechtsfreier Raum
Silke Müller will Lehrer und Eltern auf ihre Verantwortung aufmerksam machen – sie tut es ohne erhobenen Zeigefinger, ohne Schuldzuweisung oder als „Moralapostel". Und sie weiß aus eigener Erfahrung, wie schnell man sich im Netz verliert, viel zu lange dort herumsurft und manchmal auch der digitalen Versuchung nach Selbstdarstellung nicht wiederstehen kann.
Eine konsequente Medienerziehung oder digitale Ethik-Standards gibt es nicht, obwohl beides wichtig wäre, um den Schaden, den Gewalt, Hass und Anfeindungen im Netz anrichten können, zumindest zu begrenzen.
„Obwohl wir das eigentlich alles wissen, betrachten wir die Netzwelt scheinbar noch immer als mehr oder weniger rechtsfreien Raum, in dem man seine dunkelste Seite ausleben oder eben die Anerkennung suchen kann, die man möglicherweise im analogen Alltag vermisst. Was daraus resultiert, ist eine Jagd nach Likes, nach Anerkennung, vielleicht sogar nach Bewunderung und Selbstliebe."
Ein engagiertes, kenntnisreiches Buch, das schockiert und gerade deswegen Eltern und Lehrern zu denken geben sollte, damit das Smartphone für Kinder nicht weiterhin „ein Wurf ins unkontrollierte Haifischbecken ist."
(Christiane Schwalbe)
Silke Müller ist Schulleiterin in Niedersachsen, seit 2021 erste Digitalbotschafterin ihres Landes und kämpft für eine ethische und demokratische Werteerziehung; sie lebt in Hatten/Landkreis Oldenburg.
Silke Müller „Wir verlieren unsere Kinder!“
Gewalt, Missbrauch, Rassismus – Der verstörende Alltag im Klassen-Chat
Droemer Knaur 2023, 224 Seiten, 20 Euro
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