Julia Shaw
Das trügerische Gedächtnis
Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht
Man trifft sich mit Freunden, plaudert über vergangene Zeiten und erinnert sich an einen besonders schönen Kneipenabend. X weiß noch genau, dass der Wirt die fröhliche Truppe um Mitternacht rausgeworfen hat, Y erinnert sich ans Morgengrauen und Z schließlich behauptet, man hätte sich zum Schluss geprügelt.
Trügerisch und eigenwillig
Ein schöner Abend und mindestens drei Erinnerungen? Klar, sagt Julia Shaw, denn es gibt nicht nur ein Gedächtnis und schon gar nicht können sich drei Personen gleichermaßen "richtig" erinnern. Unser Gehirn ist überaus komplex, und der Mensch verfügt über ein semantisches und episodisches Gedächtnis. Was genau bei welcher Erinnerung abgerufen wird – wir wissen es nicht wirklich. Erinnerungen lassen sich nahezu beliebig formen. Unser Gedächtnis ist trügerisch, lückenhaft und eigenwillig. Wir erinnern uns haargenau an Fakten oder Begriffe, dafür nur schlecht an Menschen und Situationen und umgekehrt.
Eingebaute Fehler
Erinnerungen der Eltern oder Großeltern sind emotional besetzt, oft glauben wir, es seien unsere eigenen – an früheste Kindheit im Kinderwagen unterm Kirschbaum oder gar an Geburt und erste Babywochen. Wir machen Fehler in der zeitlichen Einordnung sogar bei Erinnerungen,
"die uns definiert haben, … die uns zu denen gemacht haben, was wir sind. Doch obwohl … sie derart wichtig für unsere Identität sind, können unsere Erinnerungen eingebaute Fehler enthalten… - etwa durch optische Illusionen, durch unser Erregungsniveau und selbst durch unsere Schwächen bei der scheinbar intuitiven Fähigkeit, Zeit zu schätzen."
Keine objektive Wahrheit
Julia Shaw erzählt kurzweilig und kenntnisreich, spannend und verständlich. Sie räumt auf mit vielen Mythen, die um unser Gehirn und unser Gedächtnis gestrickt werden. Sie erklärt anhand zahlreicher Studien und wissenschaftlicher Untersuchungen, wie mangelhaft unser Erinnerungsvermögen ist und wodurch es jederzeit manipuliert werden kann. Eine Erkenntnis, die gerade bei der Untersuchung von Straftaten bedeutsam ist. Nicht nur bei den Aussagen von Tätern ist Vorsicht geboten, auch bei den Zeugen. Die objektive Wahrheit gibt es – so die Forschung – offensichtlich nicht. Als Gutachterin muss die Rechtspsychologin Julia Shaw immer wieder Aussagen vor Gericht bewerten. Eine schwierige Aufgabe, weil sie nur bedingt glaubwürdig sind: "Ein Zeuge ist kein Zeuge."
Mediales Multitasking
Wir lernen Savants mit ihren überdurchschnittlichen "Inselbegabungen" kennen, erfahren vom "kortikalen Homunculus" und von Menschen mit einem extrem überlegenen autobiografischen Gedächtnis – "Der Club ist klein und exklusiv, aber er ist von weit größerem Nutzen …" für die Forscher, die natürlich wissen wollen, wie deren Gehirn tickt. Daraus sind wieder Schlüsse für die gesamte Hirnforschung zu ziehen, denn "Die Gedächtnisforschung steckt in manchen Bereichen noch in den Kinderschuhen." Natürlich hat auch das mediale Multitasking, das uns Facebook & Co. bescheren, seine Auswirkungen:
"Wir glauben, wir könnten uns beim Kaffee unterhalten und dabei ständig unser Smartphone checken, wir könnten eine ganze Vorlesung lang iMessages schicken und empfangen und trotzdem nachher im Kopf haben, was der Dozent uns erzählt hat, und wir könnten online Fotos posten und gleichzeitig im Augenblick sein und ihn genießen. Irrtum!"
"Die Menschen können nicht gut multitasken, und wenn sie behaupten, sie könnten es, dann täuschen sie sich … In Selbsttäuschung ist das Gehirn sehr gut." Zitiert Shaw einen renommierter Neurowissenschaftler.
Tröstliche Erkenntnis
Blitzlichterinnerungen und Erinnerungs-Hacking, traumatische Ereignisse, Hypnose und Gehirnwäsche, Flashbacks, digitale Amnesie und Lernen im Schlaf, Größenwahn und Mnemotechniken für Geheimagenten: Julia Shaw präsentiert in ihrem Buch eine beeindruckende Fülle von faszinierenden Fakten und Informationen. Nach der Lektüre ist eine Erkenntnis deshalb ausgesprochen tröstlich;-)
"Unser Gedächtnis ist darauf angelegt, zu vergessen. Vergessen ist ein wunderbarer Mechanismus, der unsere neuronalen Verbindungen zurückstutzt, um unser Gehirn darin effizienter zu machen, nur die Informationen zu speichern, die für uns die allerwichtigsten sind. Wenn wir die Schönheit des Vergessens erkennen, sehen wir auch, dass die Fähigkeit, uns an alles zu erinnern, eher eine drückende Last als eine Superfähigkeit wäre."
(Christiane Schwalbe)
Julia Shaw, *1976 in Köln, aufgewachsen in Kanada, Rechtspsychologin, arbeitet in London
Julia Shaw "Das trügerische Gedächtnis"
Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht
"The Memory Illusion" übersetzt aus dem Englischen von Christa Broermann
Hanser Verlag 2016, 304 Seiten, 22 Euro
eBook 16,99 Euro