Julian Nida-Rümelin
Über Grenzen denken
Eine Ethik der Migration
Staaten dürfen nicht nur Grenzen ziehen, sie müssen es sogar, denn offene Grenzen schaffen keine globale Gerechtigkeit. Zu diesem Ergebnis kommt der Philosoph und ehemalige Kulturstaatsminister im Kabinett Gerhard Schröder bei seinen Überlegungen über nationale Grenzen unter den Aspekten von Ethik, Moral und Toleranz.
Legitime Grenzen
Die Aufnahme von Flüchtlingen ist eine humanitäre Pflicht. Daher dürfen Grenzen für Migranten nicht komplett geschlossen werden, sondern müssen durchlässig bleiben - bei Erfüllung neu bestimmnbarer Kriterien. Eine "grenzenlose" Offenheit schließt Nida- Rümelin aus
"Es gehört zum kollektiven Selbstbestimmungsrecht einer Bürgerschaft, die sich in einem Staat organisiert hat, zu entscheiden, wie sie leben möchte, mit wem sie leben möchte, ob sie kulturelle, soziale und ökonomische Veränderungen akzeptiert oder nicht. Es gibt keine moralischen Gründe, die sie zwingen könnten, dieses Selbstbestimmungsrecht aufzugeben."
Zurückgeblieben
Nida-Rümelin bezieht auch die in den Herkunftsländern der Migranten zurückgebliebenen Menschen in seine Argumentation ein: Die Flüchtenden sind meist die leistungsfähigsten, gebildetsten und finanziell am besten ausgestatteten jungen Männer, während Frauen und Kinder, Arme, Alte und Kranke zurückbleiben. Auch diese müssen die aufnehmenden Länder in ihre politischen Entscheidungen einbeziehen, damit in besonders betroffenen Regionen - zum Beispiel in Afrika - kulturelle Besonderheiten und die durch Abwanderung zwangsläufig veränderten Lebensformen der Daheimgebliebenen nicht nachhaltig beschädigt, sondern kompensiert werden.
Kriegs- und Bürgerkriegs-Migration
Den aus Kriegs- und Bürgerkriegsgegenden Geflüchteten muss schon aus grundgesetzlichen Gründen vorübergehend so lange Asyl gewährt werden, bis sich die Situation in ihrem Land wieder entspannt. Eine kostspielige und auf Dauer ausgerichtete Integration der Geflüchteten hält Nida-Rümelin daher nicht für sinnvoll, da diese Menschen beim Wiederaufbau ihres eigenen Landes – zum Beispiel in Syrien - dringend gebraucht werden. Nachbarstaaten in ihrer Region sollten sie aufnehmen und ihnen angemessene Lebensumstänbde ermöglichen – finanziell unterstützt von den reichen Staaten.
Armuts- und Wirtschaftsmigration
Etwa 2 Milliarden Menschen auf der Welt müssen von weniger als zwei Dollar am Tag leben. Nur 0,5 Prozent des Weltsozialprodukts könnten laut Weltbank reichen, um diese absolute Armut abzuschaffen. Eigentlich eine ganz einfache Rechnung, wenn sie denn ernst genommen würde. Nida-Rümelin rechnet mögliche Lösungen bei der Armuts- und Wirtschaftsmigration deshalb anders – immerhin kostet es in Deutschland etwa 250.000 Euro, bis ein Migrant voll integriert ist.
"Transkontinentale Migration ist kein geeignetes Mittel, um Armut und Elend in der Welt zu bekämpfen. Wenn die Kosten ... für die Armuts- und Elendsbekämpfung vor Ort eingesetzt würden, wäre dies um ein Vielfaches wirksamer."
Ethische Postulate für die Migrationspolitik
Migrationspolitik muss so gestaltet werden, "dass sie zu einer humaneren und gerechteren Welt beiträgt", meint: Nachteile (brain drain) in den Ursprungsländern finanziell großzügig kompensieren, Bedingungen in den Aufnahmeländern schaffen, dass die Migration nicht als soziale Bedrohung interpretiert wird. Um dies in unserer globalisierten, kapitalistischen Welt zu realisieren, schlägt Nida-Rübelin den gezielten Aufbau von transnationalen Institutionen vor, so z.B. eine "Weltsozialgerichtsbarkeit" mit Sanktionsgewalt und Durchgriffsrecht in den Mitgliedsstaaten.
Neue Denkansätze
Auch wenn diese Vision nach den Erfahrungen mit schon vorhandenen globalen Institutionen kaum realistisch scheint: Dieses Buch versammelt eine Vielzahl belastbarer Argumente und neuer (politischer) Denkansätze für eine ethisch fundierte aktive Migrationspolitik, denn:
"Der Rückzug auf eine Politik großzügiger Aufnahme, anstatt eine Politik der Reform der Weltwirtschaft anzugehen, ist .....in der Perspektive internationaler Gerechtigkeit ein ethisches Unrecht."
(Peter Ehrenfried)
Julian Nida-Rümelin, * 1954 in München, wo er politische Philosophie und Ethik lehrt, er war 5 Jahre Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder
Julian Nida-Rümelin "Über Grenzen denken"
Eine Ethik der Migration
Edition Körber 2017, 248 Seiten, 20 Euro
eBook 15.99 Euro