Nadia Murad mit Jenna Krajeski
Ich bin eure Stimme
Friedensnobelpreis 2018
Diese Buch ist das erschütternde Zeugnis des Völkermords an den Jesiden, geschrieben von einer jungen Frau, die den Mut und die Kraft hatte, aufzuschreiben, was ihr angetan worden ist, um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf ein bislang weitgehend unbeachtetes Problem zu lenken.
Monatelanges Martyrium
Dafür hat Nadia Murat den Friedensnobelpreis 2018 bekommen - zusammen mit Denis Mukwege, einem Gynäkologen, der im Kongo Frauen hilft, die Opfer von sexueller Gewalt wurden.
Auch die junge Jesidin ist Opfer von sexueller Gewalt, und was sie erzählt, geht unter die Haut, lässt auch nach der Lektüre nicht los. Sie wird zusammen mit anderen jungen Frauen und Mädchen vom 'Islamischen Staat' (IS) entführt, verschleppt, gedemütigt, monatelang gefoltert und vergewaltigt. Ihr gelingt die Flucht, sie findet Unterschlupf bei einer Familie, der Sohn hilft ihr, nach Kurdistan zu kommen - auf gefahrvollen Wegen, vorbei an den misstrauischen Soldaten bedrohlicher Checkpoints. In Kurdistan warten die wenigen Verwandten, die es ebenfalls geschafft haben. Sechs von acht Brüdern wurden ermordet, ihre Mutter zusammen mit 30 anderen älteren Frauen getötet und in Massengräbern verscharrt.
Friedliches Leben
Nadia Murad wächst im einem kleinen Dorf im Norden des Irak auf:
"Kocho ist Zeit meines Lebens ein jesidisches Dorf gewesen, gegründet von nomadischen Bauern und Schafhirten, die in dieser einsamen Gegend eine Siedlung errichteten, um ihre Frauen vor der wüstenartigen Hitze zu schützen, während sie mit ihren Schafen zu besseren Weidegründen zogen … als ich auf die Welt kam, war Kocho bereits auf etwa zweihundert Familien angewachsen, alle Jesiden, und so eng miteinander verbunden wie eine einzige große Familie, und das waren wir auch beinahe."
Teufelsanbeter
Aber Jesiden sind für den IS "Teufelsanbeter". Mit dem Einmarsch der Amerikaner in den Irak verlieren die Jesiden den Schutz der kurdischen Regierung:
"Damals wusste ich nicht, dass es der kurdischen Regierung durchaus gelegen kam, dass sich die Jesiden von ihren arabischen Nachbarn entfremdeten … und ebenso wenig war mir klar, was für einen brutalen Umbruch die amerikanische Besetzung für das Leben der normalen Sunniten mit sich brachte. Ich hatte keine Ahnung, dass sich, während ich weiter zur Schule ging, in unseren Nachbardörfern ein namenloser Widerstand formierte, der den Weg für die Ausbreitung von al-Quaida und später des 'Islamischen Staates' ebnete. Sunnitische Stämme überall im Irak versuchten, zumeist vergeblich, sich gegen die schiitische Herrschaft in Bagdad und gegen die Amerikaner aufzulehnen."
Henne und Küken
Als im Frühsommer 2014 außerhalb des Dorfes Kocho zwei Bauern von ihren Feldern verschwinden und in einem Nachbardorf eingesperrt werden, ahnt niemand, was kommen wird. Und niemand misst der Tatsache Bedeutung bei, dass die Entführer auch eine Henne und ihre Küken mitnehmen. Später wird sich herausstellen, dass es als perfide Warnung des IS gedacht war - als Symbol für Frauen und Kinder, die bald geholt würden. Das geschieht am 3. August 2014, Soldaten des IS überfallen Kocho, töten ältere Männer und verschleppen die jüngeren, die zur Soldatenausbildung gezwungen werden sollen.
Sabaya
Mädchen und junge Frauen werden als Sklavinnen verkauft. Fortan sind sie Besitzstücke, denen alle erdenklichen Demütigungen und Qualen zugefügt werden dürfen, "sie wollten uns entehren, unsere Würde nehmen", sagt Nadia Murad, die eine sabaya wird, eine Sexsklavin:
"Diese Praxis stammt aus einer längst überholten Interpretation des Korans, die inzwischen weltweit von den muslimischen Gemeinden für ungültig erklärt wurde, vom 'Islamischen Staat' jedoch offiziell übernommen wurde. Jesidische Mädchen galten als Ungläubige und nach der Koraninterpretation des 'Islamischen Staates' ist die Vergewaltigung ungläubiger Sklaven keine Sünde. Wir sollten … als Belohnung für loyales und tapferes Verhalten unter den Kämpfern herumgereicht werden. … Wir waren keine Menschen mehr, wir waren sabaya."
Sie werden gezwungen, zum Islam zu konvertieren, und dieser Übertritt wird aufgezeichnet.
"Dann erklärte der Richter uns zum Eigentum des Mannes, der uns hergebracht hatte."
Rückkehr in die Gemeinschaft
Was Nadia Murat beschreibt, können wir uns kaum vorstellen: Besitznahme, Befehle, sich hübsch anzuziehen und zu schminken, um ihren Peinigern zu gefallen, und – nach einem missglückten Fluchtversuch – die Freigabe an alle Wächter, sich ihres Körpers zu bedienen. Dass Jesidinnen, die nicht mehr jungfräulich sind, von ihrer Gemeinschschaft verstoßen werden, macht die Angst, darüber zu erzählen, anfangs umso größer. Nadia Murat wagt es trotzdem, und inzwischen haben jesidische Gelehrte beschlossen, dass diese misshandelten Frauen in ihre Gemeinschaft zurückkehren dürfen.
Appell an die Menschlichkeit
Heute kämpft Nadia Murat, deren durchlebte Qualen und Ängste noch immer an ihren unendlich traurigen Augen abzulesen sind, als Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen für Tausende anderer Frauen, die sich noch in der Gewalt des IS befinden. Ihr Buch ist die ergreifende Geschichte einer Frau, die nicht stilles Opfer bleiben, sondern Menschen und Institutionen aufrütteln will. Es ist ein Appell an Menschlichkeit, Mitgefühl und politische Verantwortung. Ein Appell an uns alle.
(Christiane Schwalbe)
Nadia Murad mit Jenna Krajeski "Ich bin eure Stimme"
Mit einem Vorwort von Amal Clooney
Aus dem Englischen von Ulrike Becker, Jochen Schwarzer und Thomas Wollermann
Droemer Knaur Verlag 2018, 376 Seiten, 19,99 Euro
eBook 14,99 Euro