Amanda Lee Koe,
Ministerium für öffentliche Erregung
Storys
"Die Erde dreht sich. Zeit vergeht. Reis wird gegessen. Wer kann das widerlegen?" Eine chinesische Ehefrau mittleren Alters und nur scheinbar fatalistischen Gemüts kommt zu dem Schluss, dass sie in der Einsamkeit ihre Freiheit gefunden hat.
Ein Moment von Freiheit
Vom Mann verlassen, nachdem ihr ein Unfall das Gesicht entstellte, beschreibt sie lakonisch ihr Leben, zwischen Lieblosigkeit und Depression, kitschigen Filmen und Pflichterfüllung:
"Wenn wir Menschen in unserem Leben haben, wenn wir Beziehungen haben, dann haben wir Pflichten, dann müssen wir dienen. Wir können das nicht abschütteln. Wir können dem nicht einfach den Rücken zukehren. Aber wenn man diejenige ist, die verlassen wurde – dann wurde man in Wirklichkeit freigelassen."
Ein winziger und schräger Moment von Freiheit in einem Dasein voller leiser Enttäuschungen – Happy Ends sind die Sache der jungen Autorin Amanda Lee Koe nicht. In kunstvoll arrangierten Einblicken ins Leben vor allem von Frauen jeden Alters destilliert sie die Spuren von Schmerz, Verlust und harten Einsichten heraus. Die Liebe - ungelebt, verraten, verloren, todtraurig - ist das geheime Zentrum aller vierzehn Erzählungen der inzwischen neunundzwanzigjährigen Autorin aus Singapur.
Wahre Größe
In der "Ballade von Arlene und Nelly" treffen sich zwei Frauen, die sich schon als Schülerinnen kannten und als junge Lehrerinnen kurze Zeit liebten, nach vierzehn Jahren wieder und bleiben zusammen, für wenige Monate, bis Arlene an Krebs stirbt. Wie in einem Kaleidoskop lässt Koe wenige Partikel ihrer beider Wege aufblitzen und erzählt doch auf diese Weise ihr ganzes Leben, kondensiert zu einem einzigen, leuchtenden Kern, auf den es ankommt.
"Die Tode – winzige, falsche, echte – die wir im Namen der Liebe sterben, sind das, was uns wahrer Größe am nächsten bringt."
Frei von Pathos und mit kühler und zugleich lyrischer Sprache werfen Koes Geschichten ein Licht auf die urbane Lebenswirklichkeit in ihrer Heimat Singapur, dem wohlhabenden Stadtstaat mit der kolonialen Vergangenheit und einem bunten Gemisch an Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft und Prägung. Im Interview mit der «Asia Literary Review» erläutert die Schriftstellerin den englischen Titel ihres inzwischen preisgekrönten Erstlings:
"Für mich war die Idee eines Ministeriums für moralische Panik . . . eine Art Linse, durch die ich die Geschehnisse im heutigen Singapur betrachten konnte. Es gibt so viele Spannungen im Dreieck zwischen paternalistisch-bürokratischem Kasperletheater, 'asiatischen' Werten und Gesellschaftsnormen und persönlicher oder zwischenmenschlicher Selbstverwirklichung."
Tiefes Verständnis
Zoe Becks Übersetzung transformiert die 'moralische Panik' des Titels zwar in 'öffentliche Erregung' und verschiebt damit leise den Akzent, öffnet die Erzählungen aber für uns Leser in sehr frischer und origineller Weise, ohne Jugendjargon überzustrapazieren oder die Nuancen zwischen den oft sehr verschiedenen Realitäten der Figuren einzuebnen. Ein großer Gewinn, denn wer hätte erwartet, dass Menschen mit javanischen oder chinesischen Wurzeln und einer fremden Geschichte uns dennoch blitzartig so unter die Haut gehen und tiefes emotionales Verstehen bewirken? So fremd ist die Geschichte eben doch nicht, und die junge Autorin hat ein bemerkenswertes Gespür dafür:
Auf beiden Seiten unserer Unterlippe, unter unseren Mundwinkeln ist eine Stelle, wo unsere Reißzähne wären; Spuren von Dingen, die wir im Lauf der Evolution verloren haben.
Amanda Koe entwickelt die psychologischen Brüche und Anstrengungen ihrer Figuren mit großer Sorgfalt und raffiniert komponiert, indem sie kunstvoll Reibung mit den moralischen und öffentlichen Regeln aufbaut, die unterlaufen oder gebrochen werden. Unbequemen Themen wie Rassismus, Transsexualität, Terrorismus oder dem Zusammenprall von Gewalt und Begehren weicht sie nicht aus. Auf diese Weise erzeugt sie hohe Intensität und geht auch den Auswirkungen der Globalisierung in den persönlichsten Konstellationen nach.
Sprachliche Kunst
In "Jeder Park auf dieser Insel" erkundet eine junge Studentin aus Singapur tatsächlich jeden Park, zusammen mit ihrem amerikanischen Freund, dem "Bären", einem Austauschstudenten aus einer Kleinstadt, doch die Liebesgeschichte bleibt in den Wörtern, die sie wechseln, ebenso wie in aufblitzender Gewalttätigkeit stecken und ist doch herzzerreissend traurig, komisch und voller Sehnsucht, die kulturellen Abgründe zu überqueren. Irgendwann. Das verbindet alle vierzehn Kurzgeschichten in diesem bemerkenswerten Band, ebenso wie Mut, Phantasie und sprachliche Kunst der Autorin Amanda Lee Koe.
(Lore Kleinert)
Amanda Lee Koe *1988, lebt in Singapur und New York als Literaturredakteurin und Herausgeberin ihres eigenen Literaturjournals Ceriph, sie hat mehrere Literaturpreise in Singapur gewonnen
Amanda Lee Koe "Ministerium für öffentliche Erregung"
Ministry of Moral Panic, 2013, übersetzt aus dem Englischen von Zoë Beck
Storys, Culture Books Verlag 2016, 240 Seiten, 22 Euro
eBook 14,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Amanda Lee Koe
"Die letzten Strahlen eines Sterns"