Ralf Rothmann
Museum der Einsamkeit
"Wir erleben ja keine Romane, wir erleben Erzählungen, und zwar 'zig Erzählungen jeden Tag." Sagt Rothmann im Interview. Und in seinem fünften Band mit Erzählungen präsentiert er sich erneut als Meister der Seelenerkundung, in seiner klaren, fast magischen Sprache.
Zwischen Ort und Zeit
"Jede wahre, jede leuchtende Kurzgeschichte hat einen romanlangen Schatten", schrieb er einmal, und jede einzelne seiner neun neuen Geschichten leuchtet und öffnet sich in den Köpfen derer, die sie lesen, zu einem Roman, den weiter zu erahnen all jenen möglich ist, die sich die Zeit dafür nehmen. Die Erzählungen führen an unterschiedlichste Orte zu unterschiedlichsten Zeiten, spielen in der unmittelbaren Gegenwart genauso wie in der Vergangenheit.
Die Einsamkeit und das Alter, das Erlebnis der Demütigung, die Angst vor dem Tod raubt den Menschen den Boden, den sie für sicher gehalten haben: dem hinkenden Maurer, der nicht mehr auf den Bau darf und Trost bei einer Gelegenheitsliebe sucht, dem Maler, der nach Jahrzehnten Vergebung für seinen Angriff auf einen Mitschüler sucht, dem verzweifelten Jungen, der seinen Bruder beruhigen soll und tote Tauben tanzen lässt, während die Eltern die Nacht durchmachen. Keine aufregenden Situationen, und doch gelingt es Rothmann, die Not seiner Figuren lange nachhallen zu lassen.
„…Hoffnungslosigkeit befiel ihn, noch während er sprach. Denn dem fortgesetzten Weinen des Kleinen glaubte er anzuhören, dass der längst nicht mehr an die Linderung seines Jammers rechnete und sich mit einer Art schluchzendem Behagen eingerichtet hat in der Klage – wie er selbst zu Beginn des Sommers, nachdem die Mutter ihm erzählt hatte, dass der Vater sie manchmal schlug.“
Tiefe Wahrheit
Seine klare, feinnervige Sprache gibt den Menschen im „Museum der Einsamkeit“ die Würde zurück, ohne sie jemals bloßzustellen. Ihre Selbsttäuschungen und Illusionen erscheinen als mitunter letzte Möglichkeiten, der Verzweiflung mit einem kleinen Umweg, einer raschen Volte zum Besseren zu entkommen. In der letzten der neun Geschichten, „Psalm und Asche“, konfrontiert er die grausig-verlogene Verteidigungsrede des Lagerkommandanten von Westerbork mit dem inneren Monolog der niederländischen Widerstandskämpferin Etty Hillesum im Viehwagen nach Auschwitz, als sie den Säugling einer bereits verstorbenen Frau mit ihrem eigenen Speichel, mit etwas Schokolade vermischt, am Leben zu halten versucht. Ihre Stimme entgegnet einer anderen Frau, die sich der Aussichtslosigkeit ihrer Lage nicht bewusst ist:
"Wieso sollte uns jemand helfen? Nichts und niemand wird das tun. Auch Klagen hilft nichts. Es raubt dir die Kraft, die du dafür brauchst, das Ende zu akzeptieren. Das Letzte im Innern, die Wahrheit hinter der Wahrheit, kann dir sowieso niemand nehmen. Wenn du das verstehst, bist du frei, und das Leben ist wieder wunderbar, auch hier, auch in diesem Moment."
Diese tiefere Wahrheit blitzt in allen Erzählungen auf, oft überraschend, immer begleitet von Sehnsucht, Trauer und leisem Schmerz, und absolut virtuos erzählt.
(Lore Kleinert)
Ralf Rothmann, *1953 in Schleswig/Holstein, Schriftsteller mit zahlreichen Auszeichnungen, bekannt geworden vor allem durch seine Ruhrgebietsromane, lebt in Berlin
Ralf Rothmann „Museum der Einsamkeit“
Erzählungen, Suhrkamp Verlag 2025, 268 Seiten, 25 Euro
eBook 21,99 Euro
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