Deborah Feldman
Überbitten
Es ist ein harter und entbehrungsreicher Weg, den Deborah Feldman zu gehen wagt, als sie die Satma, eine ultra-orthodoxe Gemeinde chassidischer Juden in Brooklyn/NY verlässt, um ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen. In ihrem Buch "Unorthodox" beschreibt sie, welchen Regeln und Zwängen sie in dieser Gemeinde unterworfen war. In "Überbitten" schildert sie ihren Weg zu sich selbst.
Mutige Spurensuche
Der Weg ist lang, aber – so sagte sie in einem Interview – sie könnte ohne Mühe weitere 700 Seiten schreiben, um den Weg zu sich selbst zu beschreiben. Denn das ist "Überbitten": Eine berührende und eindringlich erzählte Geschichte von der mutigen Suche nach dem eigenen Ich, das es bei den Satma nicht geben durfte. Da galt nur die Gemeinschaft und die bittere Ideologie derer, die ein besonders strenges jüdisches Leben verordnen, weil sie davon ausgehen, dass der Holocaust von Gott als Strafe für fehlende Frömmigkeit erdacht worden sei. Aber Deborah Feldman hat mit ihrem jüdischen Namen "Sara" nicht zugleich ihre Vergangenheit abgelegt. Im Gegenteil:
"Wenn mein Blut jüdisch ist, ist es meine Seele auch. Deshalb will ich Bescheid wissen, wie genau das Jüdischsein mir eingeprägt ist. Was genau ist es, das ich geerbt habe? … Die Frage, die allen Fragen vorausgeht, lautet aber: Wie kann ich mein Jüdischsein für mich erträglich machen?"
Ohne Stammbaum
Das liebevolle Verhältnis zu "Bubby", ihrer Großmutter, rückt in den Mittelpunkt, die Suche nach einer Vergangenheit, die sie nicht kennt, was sich in der Schule demütigend bemerkbar macht. Denn Deborah hat keinen "richtigen" Stammbaum, keine Ahnentafel, die Verbindung ihrer Eltern galt als missraten, die Mutter wurde verstoßen. Und ihre Verzweiflung trägt sie zur Großmutter, die verspricht, ihr dabei zu helfen, "das gähnende Loch in mir zu füllen":
"Ich wollte sie in diesem Augenblick umarmen, wagte es aber natürlich nicht. Ich hatte sie noch nie umarmt und würde es niemals tun. Das gab es in unserer Welt schlicht und einfach nicht … Gefühle waren in unserer Welt unglaublich gefährlich."
Feldman reist zunächst durch Amerika, verfolgt dann beharrlich und akribisch die Spuren ihrer Vorfahren, die nach Europa führen, bekämpft Angst und Schuldgefühle und hat – nach dem unerwartet großen Erfolg ihres ersten Buches - endlich auch die materielle Unabhängigkeit, um durch Europa zu reisen und das Jüdischsein ihrer Großmutter zu entdecken. "Bubby" überlebte das Konzentrationslager und musste nach grauenvollem Leid – worüber sie nie gesprochen hat - auch danach einen harten Kampf austragen, um von Schweden endlich nach New York zu kommen. Ihr Judentum orientierte sich an alten Werten, war undogmatisch und lebensbejahend und das wird auch die Richtschnur für Deborah Feldmans Suche.
Unerwarteter Ruhm
Das Leben in New York wird ihr zur Last, sie verabscheut den zur Schau gestellten Reichtum dieser Stadt, vermisst Tiefe in ihren Kontakten. Schnell erkennt sie, dass andere Aussteiger ihr wenig zu sagen haben, weil sie in Selbstmitleid versinken und an alten Rollenbildern festhalten. Und der plötzliche Erfolg als Schriftstellerin öffnet ihr die Augen:
"Über Nacht erlebte ich die typisch amerikanische Invasion des Ruhms, die augenblickliche, totale Auslöschung von Anonymität, die mich wegwischte und mich meiner Orientierung beraubte … Während dieser Zeit meines Lebens sollte ich lernen, dass der Erwerb von Ruhm den größten Verlust an Freiheit darstellt."
Die Spurensuche in Europa kommt also zum richtigen Zeitpunkt - sie bringt dafür nur einen Stapel vergilbter Fotos und Dokumente mit, die sie bei ihrer Großmutter gefunden und heimlich kopiert hat. Reisend entzieht sie sich dem Ruhm, trifft in Europa Menschen, die an ihrer Geschichte und der ihrer Großmutter interessiert sind, erkennt, wie schwer sie sich einlassen kann auf Gefühle, erlebt Verständnis, Respekt und Zuneigung.
Bewegende Geschichte
Deborah Feldman erzählt ihre bewegende Geschichte, ihre Auseinandersetzung mit dem jüdischen Glauben als einen Prozess der Versöhnung mit einer Herkunft, die sie sich nicht ausgesucht hat. Sie erzählt sie lebendig, analytisch, klug, hört nicht auf zu hinterfragen, um dem eigenen Leben und dem ihres Sohnes einen klaren Rahmen zu geben, der sie trägt und stützt. In Paris erlebt sie,
"dass ich, entsprechend meiner Erziehung, geglaubt hatte, dass es nur eine gültige Art und Weise geben konnte, jüdisch zu sein, während alle anderen nur so taten. … Es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, dass es jenseits des Atlantiks eine ganze Welt voller anderer Deutungen und Traditionen gab."
Sie besucht Synagogen und ehemalige jüdische Viertel, sie kauft sich einen Davidsstern, um ihn offen und selbstbewusst zu tragen, sie möchte am liebsten "den gesamten Kanon europäischer Literatur verschlingen" und beginnt zu hoffen:
"Vielleicht konnte auch ich eine Art globale Jüdin sein, jemand, der offen genug war für all das, was es bedeuten konnte, die vollständige Bandbreite des farbenprächtigen Spektrums zu erfassen. Warum sollte ich mich je auf nur eine Variante beschränken?"
Zuhause für Entwurzelte
Deborah Feldman pendelt lange zwischen Amerika und Europa, fühlt "eine Art emotionales Schleudergefühl", einen Schwebezustand zwischen Schuld und Sühne, Sehnsucht und Hoffnung auf Zugehörigkeit. Sie erlebt versteckten und offenen Antisemitismus, beobachtet die rechtsextreme Szene und den Prozess von Marcel Zech, der ihr einmal im Schwimmbad begegnete, sieht "plötzlich überall nur Nazis", verliert den Mut, zweifelt, verzweifelt, und entschließt sich endlich doch, mit ihrem kleinen Sohn in Berlin zu bleiben, "eines der seltenen Zuhause für Entwurzelte, ein Ort der Rast für Verlorene". Hier – ausgerechnet in Deutschland - kommt sie, nach vielen Vorurteilen und Bedenken zur Ruhe.
Überbitten – Iberbetn ist ein altes jiddisches Wort für verzeihen, "jemanden mit Bitten überwinden", ein Ritual, um Frieden zu schließen. Feldmans Buch ist eine Autobiografie, ein Entwicklungsroman und vor allem ein Dokument der Versöhnung – mit ihrer Vergangenheit, mit sich selbst, mit dem Judentum. Sie ist angekommen - in Deutschland.
(Christiane Schwalbe)
Deborah Feldman *1986 in New York, in der chassidischen Satmar-Gemeinde in Williamsburg/Brooklyn aufgewachsen, lebt mit ihrem Sohn in Berlin
Deborah Feldman "Überbitten"
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christian Ruzicska
Secession Verlag, Zürich 2017, 704 Seiten, 28 Euro
Weiterer Buchtipp zu Deborah Feldman
"Unorthodox"