Siri Hustvedt
Die Leiden eines Amerikaners
Siri Hustvedts Romane haben etwas Magisches. Das liegt zum einen an ihrer wunderbaren Sprache, mit der sie subtil, geheimnisvoll und elegant erzählt. Sie lässt ihre Personen im Wortsinn "aus der Seele sprechen".
Zum anderen sind es die Träume und Konflikte der Personen, deren seelische Tiefen und Abgründe die Autorin auslotet. Eine ungemein fesselnde Kombination, die auch den Roman "Die Leiden eines Amerikaners" zu einem intensiven Leseerlebnis macht.
Späte Schatten
Wir begegnen Erik Davidsen, einem geschiedenen Psychiater und Psychoanalytiker, der allein in Brooklyn lebt, seine Neurosen pflegt und sich einsam fühlt. Zu seiner Schwester Inga hat er ein liebevolles und inniges Verhältnis, er ist Ratgeber und Freund für sie.
Eine Journalistin und ein Biograf forschen nach dunklen Flecken im Leben von Ingas Ehemann: er war ein berühmter Schriftsteller, der vor Jahren an Krebs gestorben ist. Unbekannte Fakten werfen späte Schatten auf ihre Ehe. Ihre Tochter soll davon nichts merken, sie ist traumatisiert von den Ereignissen des 11. September als sie ganz in der Nähe des World Trade Center Dinge gesehen hat, die sie nicht erzählen kann.
Ängste und Defizite
In seinem Beruf muss Erik sich einlassen auf die Leiden und Probleme mehr oder weniger gestörter Menschen. Dabei wird er konfrontiert mit seelischen Untiefen, mit Aggressionen und Sehnsüchten. Das weckt eigene Ängste und Defizite, die er schmerzlich zu spüren beginnt.
Als die geheimnisvolle Miranda als neue Mieterin mit ihrer fünfjährigen Tochter Eggy in sein Haus einzieht, fühlt er sich emotional zu ihr hingezogen. Aber die schöne Jamaikanerin bleibt kühl und unnahbar, während ihre kleine Tochter ein zutrauliches Onkel-Verhältnis zu Erik aufbaut.
Ein Jahr der Geheimnisse
Sein Vater ist kürzlich gestorben, und Erik leistet Trauerarbeit, indem er Briefe und Tagebuch seines Vaters Lars studiert, ihn in seiner Persönlichkeit neu zu begreifen beginnt. Auch Mirandas Leben wird von einer unguten Vergangenheit bestimmt, der Vater ihres Sohnes belästigt sie und auch Erik mit bizarren Fotos. Für alle Protagonisten wird es ein
"Jahr der Geheimnisse. Aber wenn ich jetzt zurückblicke, erkenne ich: Das Wichtigste war nicht, was da war, sondern was nicht da war".
Seelische Gefahren
Siri Hustvedt erzählt unterschiedliche Lebensgeschichten, die sich verknüpfen, beschreibt seelische Prozesse und reale Veränderungen aus dem Blickwinkel von Menschen, die an Grenzen stoßen, bedeutenden Entscheidungen auszuweichen versuchen, Dinge verdrängt haben, denen sie sich eines Tages stellen müssen.
Im Nachlass von Eriks Vater und Ingas Ehemann finden sich rätselhafte Briefe, überall tauchen Geheimnisse auf, die es zu enthüllen gilt, die aber auch seelische Gefahren für die Betroffenen bergen.
Biografischer Roman
Ein vielschichtiger, psychologischer und kluger Familienroman, der zu großen Teilen Siri Hustvedts eigene Familiengeschichte erzählt, zu der sie mit Hilfe des männlichen Ich-Erzählers eine schützende Distanz aufbaut. Ihre Großeltern kamen aus Norwegen, ihr Vater wurde in Minnesota geboren. In einem Interview erklärte sie:
"Zu dieser Geschichte hat mich mein eigener Vater inspiriert, der vor drei Jahren starb. Das Buch ist letztlich aus meiner Trauer heraus entstanden." Die Danksagung am Ende des Buches erklärt noch mehr. Hustvedts eigene Erinnerungen wurden Teil des Romans seiner Tochter: "In diesem Sinne wurde mein Vater post mortem zu meinem Co-Autor."
(Christiane Schwalbe)
Siri Hustvedt *1955 in Northfield, Minnesota, US-amerikanische Schriftstellerin, lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Paul Auster, in Brooklyn, New York
Siri Hustvedt "Die Leiden eines Amerikaners"
Originaltitel "The Sorrows of an American"
aus dem Englischen übersetzt von Uli Aumüller und Gertraude Krueger
Rowohlt Verlag 2008, 416 Seiten, rororo Taschenbuch 9,99 Euro
AudioBook 29,95 Euro
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