Julia Schoch
Wild nach einem wilden Traum
„Ohne Vergessen gäbe es keine Geschichten. Sie sind das, was übrig bleibt. Wie die Spitze eines Eisblocks, die aus dem Wasser ragt, treiben sie dahin, einfach und scheinbar richtungslos. In Wirklichkeit aber wird ihr Kurs sehr wohl bestimmt, allerdings sehr weit unten, in einer Tiefe, die allen Blicken entzogen ist.“
Geschichte einer Leidenschaft
Diese Tiefe ist es, die Julia Schoch zu erkunden versucht, der sie nachspürt, indem sie schreibt: über das, was eine kurze Begegnung auslöste, was in welcher Schicht der Wirklichkeit davon blieb. Was zwischen ihr und dem ‚Katalanen‘, einem Schriftsteller, der wie sie an einem Schreibseminar an der Ostküste der USA teilnahm, tatsächlich geschah, überlässt sie souverän der Vorstellungskraft ihrer Leser. Dass eine Leidenschaft jedoch Spuren hinterlässt, Sehnsüchte weckt, Erinnerungen evoziert, nimmt sie ernst und setzt die Geschichte einer Leidenschaft von vor gut zwanzig Jahren einer atemberaubenden Erkundung aus.
„Vielleicht passiert die Liebe, dieses Gefühl, wenn wir uns zu jemandem hingezogen fühlen, immer nur so: stellvertretend für etwas viel Früheres, Älteres, das uns verloren gegangen ist und das wir zurückerlangen wollen. Alle Liebe ist nur ein Ersatz-Haltegriff, habe ich irgendwo gelesen.“
Hier und da
Anders als in ihrem letzten Roman, in dem sie im Blick auf ihre Ehe die lange Dauer im Leben zum Thema machte, ist es hier der Moment, die kurze Spanne Zeit. Wie sie sich auf das auswirkte, was sich danach entwickelte, und damit zugleich den inneren Kurs zutage förderte, den es schon lange gab:
„Manchmal bedarf es eines anderen Menschen, um bestimmte Dinge an den Tag zu bringen und in ferne Bereiche, frühere, dunklere, unseres Lebens zu gelangen…Wir sind Vehikel füreinander, Zeitfahrzeuge, ohne dass der andere davon weiß.“
Die Erinnerung an einen jungen Soldaten, dem sie als Jugendliche begegnete, stellt hier die Verbindung zur Berufung als Schriftstellerin, dem „wilden Traum“ her, den sie immer mal wieder, aber nie ganz aus den Augen verlor. Die beiden Wochen mit dem katalanischen Schriftsteller erweisen sich als „eine Brücke zwischen zwei Blöcken aus Zeit“, den frühen Jahren des neugierigen, ungeduldigen Kindes, dessen Erlebnisse aus Büchern stammen, und der jungen Frau, die den „Sturm von Sätzen und Wörtern“, der in ihr tobt, zu Literatur machen muss.
Dem jungen Soldaten, der später zum Gegenstand ihrer ersten Geschichte wurde, legt sie die Worte in den Mund, die in diesem Buch zum Schlüssel ihrer Literatur werden:
„Schriftsteller sind Wesen mit zeitversetzter Empathie. Der Soldat hatte recht, als er sagte: Für die Gegenwart fehlt ihnen jedes Talent. Sie sind immer irgendwo anders, zwischen hier und da. Aber niemals richtig hier und niemals richtig da. Das nämlich hatte er gesagt, an dem Tag, als er mir erklärte, sie seien selten glücklich.“
Tücken des Lebens
Julia Schochs gesamte Trilogie kommt ohne jede Sentimentalität, ohne psychologisierende Glücks- und Identitätssuchereien aus. Zugleich klingt ihr Schreiben, die beharrliche Annäherung an die Unterströmungen des Lebens und ihre Tücken, nie in modischer Manier abgebrüht: Ihre Suchbewegungen sind auch in diesem dritten Buch behutsam, halten sich vor vorschnellen Urteilen zurück, voller Respekt vor dem Schrecken über die vergehende Zeit, der Angst vor dem Ende, das alle Menschen verbindet. Ihr Gespür für die Geschehnisse, die in den Falten des Gedächtnisses verborgen sind, hat sie zu einer Archäologin der Erinnerung werden lassen, die die Untiefen menschlicher Beziehungen in einzigartiger Weise auslotet. „Wild nach einem wilden Traum“ zu sein, kostet einen Preis, das ahnte bereits die sehr junge Frau. Dass diese Berufung weniger mit der leidenschaftlichen Begegnung mit einem Anderen zu tun hat als mit der Fähigkeit, dies zur Sprache zu bringen und der eigenen ‚Untröstlichkeit‘ zu begegnen, ist die Erkenntnis einer außergewöhnlichen Schriftstellerin.
„Das Schreiben kompensiert nichts. Es stellt auch keinen früheren Zustand wieder her, schon gar nicht das Leben. Es befindet sich auf der anderen Seite, der anderen Seite des Meeres, der Wüste, dort, wo sich alles aufzulösen beginnt. Es ist das, was entsteht, wenn alles gesagt und getan worden ist, man alles hinter sich gelassen hat und nichts mehr weiß.“
(Lore Kleinert)
Julia Schoch, *1974 in Bad Saarow/Brandenburg, aufgewachsen in Mecklenburg, lebt als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam
Julia Schoch „Wild nach einem wilden Traum“
Roman, dtv 2025, 176 Seiten, 23 Euro
eBook 18,99 Euro, Hörbuch 13,95 Euro
Weitere Buchtipps zu Julia Schoch:
Das Liebespaar des Jahrhunderts
Das Vorkommnis