Friedrich Ani
Letzte Ehre
„Jeder Tatort schrie, jedes Opfer; sogar die Toten schrien in Gestalt unerlöster Kinder; nur wir hören sie; wir hatten das absolute Gehör. Geschult in Unerschrockenheit, trugen wir zum Selbstschutz eiserne Masken…“
Teufelskreis der Gewalt
Friedrich Anis neuer Roman erzählt, wie Fariza Nasri vom Kommissariat für Gewaltdelikte und ungeklärte Todesfälle den Schrecken, der in ihrer Seele wuchert, nicht mehr los wird und den Schutz der ‚eisernen Maske‘ einbüßt. Zunächst verschwindet die siebzehnjährige Schülerin Finja nach einer Party spurlos, und Fariza Nasri demontiert den Freund der Mutter der jungen Frau als besonders unangenehmen Mann und Frauenquäler. Ist er aber ein Mörder? Und welches Geheimnis verbirgt Ines Kaltwasser, die Frau, die in ihrer Stammkneipe eine Schlägerei provoziert, als die Freunde dieses Mannes, eines Juweliers, ihr zu nah kommen? Auf einem Zufallstreffen, ebenso wie vor 21 Jahren, im Fasching: Damals hatte Ines Kaltwasser seinen Vater, der damals das Juweliergeschäft betrieb, auf einem Ausflug in die Lainbach-Schlucht begleitet, und er stürzte ab.
Wachsende Hilflosigkeit
Friedrich Ani jongliert mit diesen Zufällen, ohne dass es je unglaubwürdig erscheint, denn die Logik hinter den beiden Geschichten, die er verknüpft, folgt ganz anderen Gesetzen. Ganz allmählich, auf leisen Sohlen, legt der Autor sie bloß: Gewalt führt zu Gewalt, Frauen werden zu Opfern, immer und immer wieder, und was verschwiegen wird, schwelt weiter, in der Welt und den Menschen. Und die staatlich bestellten Ordnungshüter und –hüterinnen werden in die Teufelskreise von Gewalt und Missbrauch hineingezogen und nehmen Schaden.
Der Autor erspart seiner Kommissarin, die es in der Behörde nicht leicht hat, in seinem neuen Roman nichts, denn es geht um Leben und Tod. Und er stattet sie mit feinem Instinkt, Hartnäckigkeit und stetig wachsender Hilflosigkeit aus. Vor dem Spiegel ihres Badezimmers erkennt Fariza Nasri im Spiegel ihr Gesicht - als fremd:
„Wo waren Sie zwischen dem achtzehnten und achtundfünfzigsten Lebensjahr, Frau Nasri? In einer Dunkelkammer? Kann nicht sein. Fariza, behauptete zumindest Papa Malik, bedeutet ‚Die Leuchtende‘. Haben Sie geleuchtet, Frau Nasri? Ja, möchte ich sagen, ja, doch. Auf meinen Lippen verdorrt jedes Wort. Ich glaube Ihnen nicht, sage ich.“
Lebenslanges Schweigen
Leise und bösartig rückt ihr Absturz näher, als ihre Freundin Catrin zusammengeschlagen und vergewaltigt aufgefunden wird. Bei ihrer Hochzeit war sie Trauzeugin, denn sie wurde die Frau ihres Kollegen Marco Hagen, eines fürsorglichen Ehemanns und ‚Stadtteilbullen‘. Natürlich mischt sie sich in die Ermittlung ein, und zugleich baut sie Nähe zur ehemaligen Schauspielerin Ines Kaltwasser auf, die im Gefängnis auf ihre Anklage wartet.
„Diese Frau war ein einsachtundsechzig großer und fünfzig Kilogramm schwerer stummer Schrei nach Selbstbefreiung und Erlösung. Je länger sie sprach – bildete ich mir ein -, desto mehr zersplitterte ihre Stimme; am Ende blieben die Scherben eines lebenslangen Schweigens in Zimmer 214 zurück.“
Am Beginn dieses Schweigens stand ein Vater, der sein Kind missbrauchte und regelmäßig Männern aus seinem Bekanntenkreis feilbot. Die Kommissarin hört ihr zu und dringt zum kleinen Mädchen vor, „das unermüdlich versuchte, noch einmal jenes Lächeln lange vor ihrer Zeit zu erschaffen, ehe ein Meteor in ihr einschlug und einen Krater hinterließ.“
Würde der Opfer
Friedrich Ani stattet die geschundenen und schweigenden Frauen mit einer Sprache aus, die dem Grauen ihrer Geschichten angemessen ist und indem sie davon erzählt, die Würde der Opfer wiederherstellt, mit schmerzlicher Poesie. Zugleich zeigt er, wie diejenigen, die ihre Last mittragen, die Ermittler, daran zerbrechen können. Lässt sich Ordnung wiederherstellen, wenn Schuldige bestraft werden? Was wird geschehen, wenn die Kommissarin Fariza Nasrin ihre Reserven aufgezehrt hat? Um das zu erfahren, muss man den Roman sehr genau und bis zum letzten Wort lesen, und es lohnt sich.
„Wir sind alle verbeult, jeder auf seine Weise, und wir kaschieren unsere Beulen, jeder auf seine Weise.“
(Lore Kleinert)
Friedrich Ani *1959 in Kochel am See, Autor von Romanen, Drehbüchern und Hörspielen, lebt in München
Friedrich Ani „Letzte Ehre“
Kriminalroman, Suhrkamp Verlag 2021, 270 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro
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